Kindersucher - Kriminalroman
und ist anschließend einfach tot umgefallen.«
Vicki warf Kraus einen kurzen Seitenblick zu. »Wie schrecklich.«
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als sie Erich und Stefan zum Abschied umarmten, die Tür von Gottmanns Mercedes schlossen und ihnen eine gute Reise wünschten. Als der Wagen davonfuhr, winkte Ava ihnen glücklich durch das Heckfenster zu. Sie war immer begeistert, wenn sie die Gelegenheit bekam, die Jungs zu bemuttern.
Als sie den Park verließen und die Schatten länger und länger wurden, rückte Vicki dichter an Kraus heran und schob dann langsam ihre Finger in seine Hand. Erleichterung durchströmte ihn, als sie den Kopf an seine Schulter lehnte. Dann blieben sie stehen, umarmten sich und standen lange regungslos dar.
»Ach, Willi. Ich habe so große Angst, dich zu verlieren.«
»Schh. Ich gehe nirgendwohin.«
»Aber du machst nie ...«
»Schh.«
Während sie auf die Straßenbahn warteten, versank die Sonne hinter den Bäumen, und ein kühler Wind frischte auf. Vicki schob ihre Hand in seine Jackentasche, damit Kraus sie warm hielt. Er blickte über geschäftige Alleen und sah die vielen Kamine, die sich auf dem Gelände des Centralviehhofserhoben. Einen Moment lang war die Welt so, wie sie sein sollte.
Dann hämmerte etwas gegen sein Hirn.
Trommeln.
Und Trompeten. Klingende Glockenspiele.
Um die Ecke der Landsberger Allee bog eine braun-schwarze Mauer, die den Verkehr lahmlegte und eine Menge Schaulustige anzog. Die Uniformierten gingen jeweils zu viert nebeneinander, Stiefel knallten auf den Asphalt, und Fahnen zeigten Hakenkreuze auf blutrotem Grund. Die Präzision der Uniformierten erinnerte Kraus an die Tiller Girls in jener Nacht im Admiralspalast, in der Josephine Baker aufgetreten war. Die Zuschauer hier waren ebenfalls von der Gleichförmigkeit und Exaktheit der Bewegungen verblüfft.
Als die Abteilung schließlich an ihnen vorbeimarschierte, sahen sie, dass diese Reihe nicht aus disziplinierten jungen Männern bestand, sondern aus Kindern. Kraus hatte sie schon einmal gesehen, jugendliche Legionäre, denen sich Deutschland angeblich anschließen sollte, die Flugblätter verteilten und in den Sportpalast einmarschierten. Aber er hatte sie bislang nicht aus der Nähe wahrgenommen. Diese Jugendlichen hatten noch nicht einmal Flaum an ihrem Kinn. Einige wirkten kaum älter als Erich, und die Trommeln waren fast so groß wie sie selbst. Aber ihre Gesichter wirkten wie stählerne Mausefallen, die zugeschnappt waren, ihre Augen glühten wie Hochöfen, als wüssten sie nichts und sähen nichts als den erbitterten Feind vor sich.
Ihre Augen hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Blick von Irmgard und Otto an dem Morgen, als Heinz gestorben war.
Der arme, süße Nachbarsjunge. Kraus hatte ihn in jener Nacht vor den Flammen gerettet, aber anders als Erich und die anderen hatte er das Bewusstsein nicht wiedererlangt. DieSchlafmittel, die von Hessler in seinen Körper gepumpt hatte, hatten ihn in ein Koma versetzt, aus dem er nicht wieder erwachte. Als Heinz schließlich gestorben war, verblasste ihr früherer Zwist angesichts des Hasses und der Wut, die ihre Nachbarn jetzt über sie ausschütteten. Dass sie ihre freundschaftliche Beziehung beendet hatten, das betonten sie wiederholt, war nur eine Frage des Selbstschutzes gewesen. Doch jetzt, nach dem Tod ihres einzigen Sohnes, schien ein uralter Hass an die Oberfläche zu steigen, wie aus einem tiefen, dunklen Brunnen.
»Es ist also wahr, was man sagt, ihr kümmert euch nur um euch selbst. Es ist euch gelungen, Erich zu retten, aber unser Junge ist tot. Das auserwählte Volk!«
»Wahnsinn«, sagte Vicki jetzt beim Anblick der Jugendlichen mit ihren penibel gekämmten Haaren und den grimmigen Gesichtern, die an ihnen vorbeimarschierten. »Ich verstehe das nicht, Willi. Was wollen sie denn? Noch einen Krieg?«
»Sie sind nicht einmal alt genug, um sich an den letzten Krieg zu erinnern«, erwiderte Willi und zog Vicki an sich. Er hielt sie fest und sah plötzlich nicht nur diese mechanisch marschierenden Reihen von trotzigen Jugendlichen, sondern all die heimatlosen, hungrigen Kinder von Berlin. Die Neun- und Zehnjährigen, die sich in der Lindenpassage aufgestellt hatten. Die elenden Gesichter auf dem illegalen Fleischmarkt hinter ihren stinkenden Fässern. Die erbärmlichen Sklaven in Magda Köhlers Horrorkabinett. Selbst den kleinen, pausbäckigen Heinz Winkelmann – mit brennendem Gesicht von einer Ohrfeige. All die
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