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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Bestrafungen, die Rohrstöcke und Peitschen, die Prügel und Schläge. Das brutale Bestehen auf Unterwerfung. Ich hätte lieber einen toten Sohn als einen ungehorsamen.
    »Willi, bitte, können wir jetzt gehen?« Vicki umklammerte seine Hand.
    Er nahm ihren Arm und wollte losgehen, doch in diesem Moment ratterte die Straßenbahn um die Ecke. Sie sprangenauf, ergatterten zwei Plätze, sahen nach draußen auf diese grimmigen Kinder und hörten, wie sie Himmel und Erde mit ihrem Lied erschütterten:
    Wir sind die Hitlerjugend
    Und helfen euch befrei’n
    Wir steh’n mit unserem jungen Blut
    Für Volk und Heimat ein!

EPILOG
    Winter 1947
Britisches Mandatsgebiet, Palästina
    Die Sonne brannte auf den Dizengoffplatz, das moderne Herz von Tel Aviv. In der Oase, die man in seiner Mitte angepflanzt hatte, schoben gut gekleidete Paare Kinderwagen vor sich her oder entspannten sich auf Bänken im Schatten der Palmen, während sie den Springbrunnen betrachteten. Hinter der Grünanlage führten lange, von eckigen weißen Gebäuden gesäumte Boulevards zur türkisfarbenen Küste. Eine glitzernde, neue Metropole.
    Kraus holte tief Luft. Sein Schädel brannte. Er hatte schon wieder seinen Hut vergessen. In den acht Jahren, in denen er hier im Nahen Osten war, konnte er sich nicht einmal an die Hälfte von den Dingen erinnern, an die er denken sollte: die Sonne, die Gefahr eines Hitzschlages, dass der Dizengoffplatz nicht der Kurfürstendamm war. Dass der Januar hier wie der August in Nordeuropa war. Doch obwohl er sich manchmal wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlte, empfand er Tel Aviv als weit unbeschwerter und freier als Berlin.
    Jedenfalls das, was von seiner alten Heimatstadt übrig war.
    Was nicht heißen sollte, dass ihm der Ärger nicht hierher gefolgt wäre. Er rückte vorsichtig in den Schatten, während er darauf wartete, die Ben-Ami-Straße zu überqueren. Falls es jemals zu einem ausgewachsenen Konflikt käme, würde es diesmal kein Entkommen für ihn geben, das wusste er. Denn diesmal würden seine beiden Söhne darin verwickelt sein.
    Erich und Stefan waren in die Haganah eingetreten, die Untergrundarmee des südlichen Palästina. Erich war fünfundzwanzig und nannte sich jetzt Eitan. Er arbeitete beim Geheimdienst. Aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater, wurde er ausgebildet,davon war Kraus überzeugt, um hinter den feindlichen Linien zu operieren. Stefan hatte seinen Namen in Zvi geändert, war dreiundzwanzig und beim Palmach, der Elite-Einsatztruppe. Kraus war unterwegs, um sich mit ihm zu treffen. Es war eines der seltenen freien Wochenenden, das Zvi im Beit Keshet bekam, einem geheimen Trainingslager in der Wüste Galiläa.
    Aber als er an einem neuen Kiosk, nur einen Block von ihrem Treffpunkt entfernt, vorüberkam, blieb Kraus wie angewurzelt stehen. Mein Gott! Ihm brannte die Kehle, als er das Gesicht anstarrte, das auf den Morgenzeitungen abgebildet war.
    Er kaufte eine Ausgabe, ließ sich auf eine Bank sinken und las. Die Bildunterschrift bezeichnete sie als Ilse Koch, aber dieses pockennarbige Gesicht war unverwechselbar. Diese toten, grauen Augen. Sie hatte es also tatsächlich vor all den Jahren durch das verqualmte Treppenhaus geschafft.
    Und jetzt war ihre Niedertracht weltweit bekannt geworden.
    Er überflog den Artikel in der Ha’aretz . Nachdem es dem jüngsten der Köhler-Geschwister in jener Nacht des Jahres 1930 gelungen war, aus dem brennenden Turm auf dem Viehhof zu entkommen, war sie über die Grenze nach Polen geflohen und hatte sich im deutschsprachigen Danzig versteckt. Bis zum Frühling des Jahres 1933, als ihre Gesinnungsgenossen die Macht in Deutschland übernahm. Dann war Ilse zurückgekehrt, hatte einen SS-Oberst geheiratet und war die Frau des Kommandanten eines der größten Konzentrationslager geworden. Jetzt erwartete sie und ihren Ehemann der Prozess wegen Kriegsverbrechen. Ilse Koch war angeblich so unvorstellbar grausam gewesen, dass sie von denen, die sie gefoltert hatte, den Beinamen »die Hexe von Buchenwald« bekommen hatte. Kraus wurde schwindlig, als er weiterlas und erfuhr, dass man ihr unteranderem vorwarf, Insassen wegen ihrer Tätowierungen lebendig die Haut abgezogen und daraus ...
    Er ließ die Zeitung auf seinen Schoß sinken.
    Mein Gott, dachte er.
    Sie hatte daraus Handtaschen und Lampenschirme gefertigt.
    Im Café Esther drängten sich unter den Deckenventilatoren die aus aller Welt stammenden Einwohner von Tel Aviv. Es gab ägyptische Juden mit

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