Kindersucher - Kriminalroman
verantwortlich zu machen, dass sie die Jungen in eine Situation gebracht hatten, der sie zu entfliehen versucht hatten. Vor allem jedoch gab sie Kraus die Schuld ... weil er das alles überhaupt auf sie herabbeschworen hatte. Und er konnte diese Distanz zwischen ihnen nicht länger ertragen. Er sehnte sich selbst nach der kleinsten Berührung von ihr.
»Also gut, gehen wir.« Vicki klatschte in die Hände und sah zu, wie die Jungs vom Brunnenrand sprangen.
Die beiden waren sehr aufgeregt, weil sie nach dem Mittagessen zu einer Woche Ferien bei ihrer Tante und ihren Großeltern aufbrechen würden, und rannten fast den ganzen Weg zurück. Kraus hoffte, dass Vicki und er sich wieder versöhnten, wenn sie erst einmal weg waren.
Am Café am Teich, von dem aus man einen Blick über den Schwanenteich hatte, war es so warm, dass die Gottmanns Max’ vierundfünfzigsten Geburtstag auf der großen Terrasse feiern konnten. Rote Blumen blühten immer noch hier und da, obwohl bereits die ersten herbstlich gefärbten Blätter von den Bäumen herunterfielen. Alle schienen ausgezeichnete Laune zu haben, vor allem Max.
»Man singt ja Lieder über Paris im Frühling, Jungs.« Er schlang einen Arm um seine Enkel. »Aber wartet nur, bis ihr die Stadt im Herbst seht!«
»Ich liebe dein neues Kostüm, Vic«, erklärte ihre Schwester Ava und strich mit ihren Fingern über den Stoff.
Kraus sah, wie glücklich sich Vicki im Schoß ihrer Familie fühlte, und er beneidete sie nicht zum ersten Mal ein wenig darum. Gerade gestern erst hatte er die Gräber seiner Eltern auf dem großen jüdischen Friedhof in Weißensee besucht. Als er über die Pfade zwischen den großen Mausoleen aus schwarzem Marmor mit ihren vergoldeten Buchstaben und den Jugendstilmosaiken gegangen war, hatte er darüber nachgedacht, wie stolz sie darauf gewesen sein mussten, dass sie eine wenn auch winzige Grabstätte hier hatten erwerben können. Denn sie wussten, dass sie auf demselben Friedhof ihre letzte Ruhe finden würden wie zahlreiche Philosophen, Poeten und Kaufhausmagnaten.
»Was wir machen, wenn wir da sind?« Bette Gottmann wiederholte Stefans Frage. »Laut lachen, mein Kind, wie die Pariser das tun. Dann werden wir einen netten kleinen Besuch bei deiner Großtante machen, der Schwester meiner Mutter, die du ja schon einmal getroffen hast. Aber du kannst dich bestimmt nicht mehr an sie erinnern.«
»Mutter.« Ava ließ ihre Gabel sinken. »Da war er sechs Monate alt.«
»Danach werden wir zur Galerie Lafayette gehen und euch neue Kleidung kaufen. Ihr könnt nicht in deutscher Garderobe in Paris herumlaufen; sie wirkt dort immer ein bisschen altbacken.«
Vickis Mutter konnte gar nicht genug von Paris bekommen, das wusste Kraus, aber diesmal fühlte sich ihre Aufregung ein bisschen aufgesetzt an. Sie konnte ihren Wunsch, Berlin, und sei es auch nur für eine Woche, zu entkommen, kaum verbergen.Man konnte es ihr auch schwerlich verübeln. Denn die Anspannung hier in der Stadt ließ nicht nach, nicht einmal eine Stunde.
»Habt ihr Montagabend Radio gehört?« Ava brachte das Thema am Ende des Essens schließlich zur Sprache. »Habt ihr schon jemals etwas so Groteskes erlebt?« Sie sah die anderen der Reihe nach an.
Selbstverständlich spielte sie auf die Übertragung der Eröffnungssitzung des Reichstags an, zu der alle neuen Naziabgeordneten in Stulpenstiefeln und Uniformen aufgetaucht waren und sämtliche Beiträge mit lauten Zwischen- und Buhrufen unterbrochen hatten. Sie hatten ihrer Erklärung Nachdruck verliehen, dass sie nicht gekommen waren, um zu stützen, was zusammenzubrechen drohte, sondern um es endgültig niederzureißen. Das Parlament war nunmehr vollkommen gelähmt, es fanden nur noch Grabenkämpfe statt.
»Muss das sein, Liebling?«, bat ihre Mutter und streckte die Hand aus, um den Schal ihrer Tochter neu zu richten.
Aber Ava schien nicht bereit, die aktuellen Ereignisse einfach zu ignorieren. »Wenigstens kann man stolz auf Thomas Mann sein.« Sie schob die Hand ihrer Mutter weg.
Auf einer Sitzung der Preußischen Akademie hatte Deutschlands prominentester Schriftsteller den Demokraten zugerufen, ihre Differenzen zu überwinden und sich gegen die Bedrohung durch die Nazis zu vereinen. Selbst eine Rotte der Sturmabteilung, die sich in den Saal eingeschlichen hatte, hatte ihn nicht an seiner Rede hindern können, obwohl er Polizeischutz gebraucht hatte. Trotzdem, diese reaktionäre Welle hatte zweifellos eine Wirkung auf Berlins
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