Kindersucher
herumtrödelt. Rufen Sie mich umgehend im Rathaus von Niedersedlitz zurück.«
Dann machten sie sich in der Dokumentenhalle an die Arbeit. Der erste Fund war ein Register aus der Kriegszeit, in dem sämtliche Familienmitglieder aufgeführt waren; ihre Religion, protestantisch; ihre Kirchengemeinde – es war die Erste Reformierte Kirche. Wie sich herausstellte, hatte Ilse zwei Geschwister: einen Bruder, Axel, und eine Schwester, Magda. Das muss er sein, dachte Kraus. Der Ochse. Ilses Geburtsurkunde war da, aber keine von den anderen Kindern.
Dafür fanden sie jedoch einen Totenschein.
Clara Köhler, die Mutter der drei, hatte Ilse mit ihrem letzten Atemzug das Leben geschenkt.
Die vorgeschriebene Arbeitsbescheinigung einschließlich eines Briefes an die Musterungskommission in Dresden Ende 1914 erklärten, dass Bruno Köhler bei den »Vereinigten Lederwerken« seit seinem vierzehnten Lebensjahr beschäftigt und in den letzten acht Jahren oberster Werkmeister der Fabrik gewesen war. Er galt als unverzichtbar für die Produktion. Ein vorbildlicher Arbeiter.
Und ein Witwer mit drei minderjährigen Kindern.
»Mein Gott, sehen Sie sich das mal an«, sagte Gunther und schob Kraus einen Polizeibericht zu, der drei Jahre später datiert war ... vom März 1917.
Gut, dass sie nicht angefangen hatten, in Gefängnissen nach ihm zu suchen. Denn Bruno Köhler, Musterarbeiter und Vater von drei Kindern, hatte es nicht bis ins Gefängnis geschafft. Laut Polizeibericht von Niedersedlitz hatte man ihn tot aufgefunden, zu Hause, nachdem er dort bei seinen Kindern eine vom Gericht bewilligte letzte Nacht verbracht hatte. Die Leiche war in mehr als zwanzig Stücke zerhackt, die wie Weihnachtsschmuck an einer Fichte im Hinterhof aufgehängt worden waren ... mit dem Kopf als Christbaumspitze. Die drei Kinder waren verschwunden.
Mein Gott war da wohl ein passender Ausdruck.
Das Telefon klingelte. Es war Ruta aus Berlin. Grubers Büro hatte angerufen, erklärte sie. Niemand namens Köhler war auf dem Centralviehhof beschäftigt oder hätte zurzeit dort Werkräume gemietet.
Verdammt. Was sollten sie jetzt machen?
Er wollte gerade auflegen, als Ruta weitersprach.
»Entschuldigung, Herr Kriminalsekretär. Kommissar Horthstaler möchte mit Ihnen reden.«
»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür, dass Sie sich einfach nach Danzig abgesetzt haben, Kraus.«
»Dresden, Herr Kommissar.«
»Verbessern Sie mich gefälligst nicht, verdammt noch mal!« Der Mann war vollkommen außer sich.
Am Vortag waren zwei weitere Jungen verschwunden. Diesmal waren es Söhne von reichen Industriellen, die mit ihren Ponys durch den Tiergarten geritten waren. Die Pferde waren zurückgekehrt, nicht aber die Jungen.
»Straßenkinder und Waisen sind eine Sache, aber das hier ... Die ganze Stadt befindet sich in Aufruhr. Der Bürgermeister hat angerufen und gesagt, dass seine Frau ihre Söhne wegschicken will. Le Monde aus Paris hat ebenfalls angerufen! Sie wollen eine Geschichte über das Monster bringen. Titel: Der Kinderfresser von Berlin. Wer ist der Nächste, Kraus?«
Kraus versicherte ihm, dass er so schnell arbeitete, wie es menschenmöglich war.
»Sie sollten besser noch einen Zahn zulegen. Beten Sie zum Herrn, Ihrem Gott, um ein Wunder, denn ich darf Ihnen eines verraten: Mittlerweile fragen sich eine ganze Reihe Menschen, warum ausgerechnet ein Jude zum Beschützer unserer Kinder bestellt wurde.«
Das ehemalige Haus der Köhlers in der Heimgartenstraße 159 war ein schlichtes, verputztes Häuschen in einer Sackgasse dicht am Waldrand. Jetzt lebte dort ein junges Paar mit etlichen Kindern, die keinerlei Ahnung hatten, was hier vor fünfzehn Jahren geschehen war.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns mal umsehen?« Kraus hielt seine Kripomarke hoch.
Abgesehen von der spärlichen Möblierung gab es nicht viel zu sehen. Nur eine seltsame Delle unter einem verschlissenen Teppich in der Küche, die vermutlich niemandem aufgefallen wäre, hätte Kraus nicht so ein erfahrenes Auge gehabt. Unter dem Teppich befand sich eine Falltür.
»Ich hatte keine Ahnung, dass die überhaupt da ist.« Der junge Ehemann war sichtlich verblüfft.
Eine kurze Treppe führte in einen winzigen, fensterlosen Kartoffelkeller voller Spinnweben. Nachdem Kraus wieder nach oben gekommen war, schloss er die Falltür hinter sich und zog den Teppich wieder darüber. »Vielleicht sollten Sie da unten mal sauber machen«, schlug er vor. »Sie können den Raum als
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