Kindersucher
konnte, ohne dass auch nur irgendjemand ...
Er erstarrte, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Konnte das sein? Er sah Gunther an, ohne irgendetwas zu sagen. Arbeiteten die drei Geschwister etwa zusammen? Entführten, ermordeten und verarbeiteten sie Kinder, wie irgendeine dämonische, dreiköpfige Hydra? Es schien unvorstellbar. Aber war nicht andererseits alles an diesem Fall unvorstellbar gewesen – die Säcke mit Knochen, Lampenschirme aus Menschenhaut –, bis er es mit seinen eigenen Augen gesehen hatte?
Zurück in der Stadt versuchte er, einen Vorwand zu finden, dortzubleiben und weiter zu jagen, aber er hatte keinen Erfolg. Kommissar Horthstaler hatte unmissverständlich klargemacht, dass er so früh wie möglich zurückkehren musste. Kraus gab es nicht gern zu, aber Niedersedlitz schien eine Sackgasse zu sein. Bis auf die alte Dame, Frau Bachmann. Sie war keine gute Schauspielerin und lebte ganz offenbar schon Jahre in diesem Haus. Wenn sie einen Sohn hatte, der in Flandern gedient hatte, so rechnete er, musste der Junge wahrscheinlich in etwa genauso alt gewesen sein wie der Nachbarjunge Axel.
Sie fuhren mit einem Taxi zum Stadtrand, wo der Fahrer sie an einem barackenartigen Gebäude absetzte, vor dessen Eingang die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik wehte. Drinnen traf sie ein Schwall feuchter, mit Ammoniak durchsetzter Luft und der Anblick von endlosen Betten, auf denen schattige Gestalten lagen. Eine Krankenschwester am Empfangstresen, mit einer weißen Mütze, führte sie über den Gang der langen, nur schwach beleuchteten Station. Gunther wurde mit jedem Schritt immer blasser. Bett um Bett war von grotesken Karikaturen menschlicher Gestalten belegt: Einige hatten keine Augen, andere keine Nasen, wieder andere litten immer noch unter den Folgen von Gasangriffen, die schon viele Jahre her waren. Einige saßen in kleinen Gruppen zusammen und spielten Karten, andere lagen allein im Bett und zuckten krampfhaft. Während Kraus die Gesichter dieser übel zugerichteten Veteranen betrachtete, schüttelte er sich und versuchte, sich gegen die blutgetränkten Wogen seiner Erinnerungen zu wappnen.
In Bett 39 jedoch erwartete sie ein Bursche mit breiter Brust, der voll Vergnügen eine Zigarre paffte und eine angesichts seiner Umgebung nahezu groteske Lebensfreude zur Schau stellte. Zumal er nur noch einen Arm und keine Beine mehr hatte und in einem Segeltuchharnisch hing, der an einem Schwenkarm befestigt war und ihn aufrecht hielt. Als sie sich vorstellten, legte er seinen großen Kopf auf die Seite, was die Ähnlichkeit zu seiner Mutter betonte.
»Die Kripo!« Alfred Bachmanns glatt rasiertes Gesicht täuschte einen Ausdruck von Angst vor. »Mein Gott ... wollen Sie mich etwa verhaften?« Er lachte bellend und rollte die Zigarre zwischen den Fingern. »Glauben Sie nicht, dass dieser Ort hier als Gefängnis ausreicht?«
Kraus musste den armen Teufel nicht fragen, was mit ihm geschehen war. Und er brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich vorzustellen, wie er selbst auf den Feldern von Flandern lag, in Stücke gerissen von Granatsplittern, und sich doch irgendwie ans Leben klammerte. Dieser Alfred schien aus welchen Gründen auch immer den Schock und die Qualen überwunden zu haben, ebenso die Isolation und die hilflose Wut, und er hatte es nach all diesen Jahren geschafft, die wenigen Vergnügungen zu genießen, die ihm seine Welt noch bieten konnte. Ein Eckbett am Ende einer Reihe, ein Baum vor dem Fenster und eine Krankenschwester, die tat, was er wollte.
Und jetzt noch Kriminalbeamte, die seinetwegen aus Berlin gekommen waren.
Als Alfred Bachmann jedoch hörte, worüber sie mit ihm reden wollten, versickerte sämtlicher Humor wie Blut auf dem Schlachtfeld.
»Oh.« Sein Blick zuckte zum Fenster.
Ein alter Drachen in einer Schwesternuniform knurrte von der anderen Seite des Ganges herüber. »Wollen die Gäste Tee?«
Alfred Bachmann seufzte müde. »Glaubst du etwa, Schmidt, dass sie wie du sind und keinerlei irdische Bedürfnisse haben?«
Kraus zog einen Stuhl heran und bedeutete Gunther, sich ebenfalls zu setzen.
»Es ist sehr wichtig, dass Sie uns helfen, Bachmann. Möglicherweise stehen Menschenleben auf dem Spiel.«
»Menschenleben.« Er kicherte. »Und nennen Sie mich nicht Bachmann, ja? Das erinnert mich an die Armee. Alfred genügt. Danke, Schätzchen«, er nickte der Schwester zu. »Stell es dahin.«
»Ich weiß, wo ich es hinstellen muss.« Schwester
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