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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Lagerraum nutzen.«
    Die eisernen Ösen, die in die Wand eingelassen waren, erwähnte er nicht. Sie sahen aus, als wären sie dafür vorgesehen gewesen, Ketten daran zu befestigen.
    »Tut uns leid, dass wir Ihnen nicht behilflich sein konnten«, meinte die Frau, die ein Kleinkind auf der Hüfte schaukelte. Sie hatte einen starken sächsischen Akzent. »Versuchen Sie es doch bei den Bachmanns nebenan. Sie sind zwar nicht übermäßig freundlich, aber sie leben schon seit Ewigkeiten hier.«
    »Also gut, Gunther«, meinte Kraus, als sie zum nächsten Haus gingen. »Jetzt müssen Sie an die Front und Ihren ländlichen Charme spielen lassen.«
    Frau Bachmann war eine Frau mit einem spitzen Gesicht und einer Mähne silbrigen Haares, das sie in einem Knoten auf dem Kopf trug. »Ja?« Sie hob streng und autoritär das Kinn.
    »Was für ein wunderschönes Haus, gnädige Frau«, begrüßte Gunther sie mit einer demütigen Verbeugung. »So voller Liebe und Wärme. Dürfen wir vielleicht hereinkommen? Wir arbeiten bei der Morgenzeitung. Wir recherchieren hier für einen Artikel über Lokalgeschichte.«
    Der Junge kann improvisieren, dachte Kraus. Er wird seinen Weg machen.
    »Zeitungsleute?« Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie die beiden hereinbat. Sie warf Gunther einen Seitenblick zu. »Das muss man sich mal vorstellen! Mein Sohn Alfred wollte vor dem Krieg auch zur Zeitung. Sie sehen genauso aus wie er, als er zur Front musste. Nach Flandern.« Sie berührte mit einer runzligen Hand ihren Hals.
    »Mein Beileid.« Gunther legte die Hand aufs Herz.
    »Nein, nein.« Sie winkte ab und lachte. »Ich habe ihn nicht verloren. Jedenfalls nicht gänzlich.« Das Lachen erstarb. »Er war so ein freundlicher, zugewandter junger Mann, früher einmal, selbstverständlich.« Ihre Miene wurde langsam mürrisch. »Er sehnte sich danach, seinem Vaterland zu dienen. Aber, ach, jetzt ...« Sie verzog grimmig das Gesicht. »Er ist so zynisch geworden. Ich besuche ihn nicht mehr oft, obwohl er am Stadtrand wohnt, im Veteranenheim.« Sie legte den Kopf auf die Seite und betrachtete Gunther, als wäre er eine Fotografie. »Sie sehen ihm wirklich verblüffend ähnlich.«
    »Wir schreiben eine Geschichte über die Leute, die während des Krieges neben Ihnen gewohnt haben.« Es drängte Kraus, die Sache voranzutreiben. »Die Köhlers.«
    Das überraschte sie ganz offensichtlich. »Ich kann mich an keine Familie dieses Namens erinnern.« Ihr Gesicht wurde grau, und sie schüttelte den Kopf.
    »Haben Sie denn während des Krieges nicht hier gelebt?«
    »Nein, oh, nein. Damals lebten wir ... drüben in ... Hören Sie, meine Herren.« Ihre Gesichtsfarbe kehrte langsam wieder zurück. »Ich war erst neulich krank und fühle mich noch ziemlich schwach. Bedauerlicherweise muss ich Sie jetzt bitten zu gehen.« Ihre von Leberflecken übersäte Hand deutete zur Tür.
    An ihrem gereizten Blick sah Kraus, dass sie es ernst meinte. Um sie zum Reden zu bringen, hätte man sie vermutlich foltern müssen. Also gab er Gunther einen zögernden Wink, und sie zogen sich frustriert zurück.
    Draußen schwankte die große grüne Fichte unter einem heißen Windstoß. Man konnte praktisch immer noch diesen makaberen Weihnachtsschmuck daran baumeln sehen.
    Sie klopften an jede Tür in der Straße, sprachen mit Geschäftsinhabern und mit Menschen, die ihre Hunde Gassi führten. Sie verbrachten Stunden damit, jemanden zu finden, der ihnen etwas über die berüchtigten Köhlers erzählen konnte, aber seltsamerweise konnte sich niemand auch nur an den Namen der Familie erinnern. Kraus fand das letzten Endes nicht ganz so seltsam, als er sich diesen blutigen Kopf auf der Spitze dieser Fichte vorstellte. Immerhin waren die Köhler-Kinder noch immer irgendwo da draußen. Und Ilse hatte die Welt von dem »Gewürm« befreien wollen, das in Niedersedlitz lebte.
    Also erinnerten sich diese Einwohner sehr wohl an sie, und zwar viel zu gut.
    Kraus trottete neben Gunther durch die Hitze und überlegte, was zum Teufel dieser Vater wohl getan hatte, dass er solche Rachegelüste in seinen Kindern erzeugen konnte, und wie er damit so viele Jahre lang ungestraft hatte davongekommen können. Er erinnerte sich an das, was Kurt gesagt hatte, dass viele Schizoide nach außen hin ganz normale Persönlichkeiten besaßen. Sie konnten einem in die Augen blicken und freundlich wirken. Dieser Kerl muss darin wirklich erste Klasse gewesen sein, dachte Kraus. Dass er drei mörderische Wahnsinnige zeugen

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