Kindersucher
kahlköpfiger Mann mit einem langen Schnauzbart stand zwar auf der anderen Seite der Tür, weigerte sich jedoch, sie hereinzulassen, selbst als Kraus seine Dienstmarke zückte. Sie sahen zu, wie er seinen Hut aufsetzte, durch die Hintertür hinausging und dann über die Straße davoneilte. Kraus spielte mit dem Gedanken, ihm nachzulaufen und den Hundesohn wegen Behinderung der Justiz einzusperren, aber die Vernunft obsiegte. Stattdessen führte er Gunther auf die Rückseite des Gebäudes und klappte den Dietrich an seinem Armeetaschenmesser auf.
Gunther sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.
»Ach, nun kommen Sie schon.« Kraus zuckte mit den Schultern und tastete mit dem Dietrich ohne alle Gewissensbisse nach dem Schließmechanismus. »Sie kennen doch den alten Spruch: Je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit. Halten Sie einfach die Augen auf und sorgen Sie dafür, dass uns keiner erwischt. Ordnung mag das halbe Leben sein, aber es ist eben nur die Hälfte. Und außerdem führen viele Wege nach Rom. Wir sind auf der Jagd nach ziemlich brutalen Massenmördern. Da muss man mit den Wölfen heulen. Und manchmal, Gunther, ist es so, dass das, was der Löwe nicht schafft«, das Schloss öffnete sich mit einem Klicken, »vom Fuchs bewerkstelligt wird.«
Mithilfe einer Taschenlampe fanden sie das Archiv, das bis in die achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichte. Schon bald stießen sie auf eine ganze Reihe von Artikeln, die den Brand bei der Firma Vereinigte Lederwerke von 1916 behandelten. Merkwürdigerweise jedoch und zu ihrer beider Enttäuschung war keiner länger als drei Absätze. Die Schlacht an der Somme in Frankreich überschattete zweifellos eine Brandstiftung am Ort, aber ebenso klar war, dass jemand die Geschichte zensiert hatte. Die Firma hatte offenbar Stiefel, Taschen und Rucksäcke hergestellt. Mehr als fünfzig Männer waren dort beschäftigt gewesen, als sie in der Nacht vom 5. November ausbrannte. Zwei Tage später wurde der Vorarbeiter der Firma, Bruno Köhler, verhaftet und wegen Brandstiftung angeklagt. Über ein Motiv stand da nichts, aber wenn man zwischen den Zeilen las und Bemerkungen wie »mürrisches Verhalten« und »nachlässig bei der Arbeit« richtig deutete, legte das nahe, dass er entweder betrunken oder über irgendetwas verärgert gewesen war oder beides. Vielleicht wegen des Krieges. Jedenfalls war in jener Zeit jedes Zeichen von Unzufriedenheit Hochverrat.
Weitere Artikel fassten den Prozess wegen Brandstiftung in noch vageren Begriffen zusammen. Darin war die Rede von »gewichtigen« Beweisen der Staatsanwaltschaft, einschließlich der Aussagen von mehr als einem Augenzeugen, und schließlich gab es auch ein Geständnis von Köhler selbst, der, wie der Beobachter schrieb, den Geschworenen erzählte: »Was ich getan habe, hat der Teufel mir aufgetragen.«
Es war jedoch der letzte Artikel, der über das Strafmaß des verurteilten Mannes, bei dem sich Kraus die Nackenhaare sträubten. Wahrscheinlich aus patriotischen Gefühlen heraus beschrieb die Zeitung, wie sich selbst ein Kind gegen diese Sabotage aussprach, und scheute sich nicht, Köhlers zehnjährige Tochter zu zitieren, die sagte, fünfundzwanzig Jahre Haft wären nicht genug für ihren Vater. Er gehörte, ihren Worten zufolge, lebenslänglich eingesperrt.
Wer würde einer Zehnjährigen eine solche Aussage in den Mund legen?
»Gunther, schnell.« Kraus’ Puls stieg unvermittelt an. »Zeigen Sie mir Ingeborgs Liste mit Ilses.«
Da war sie. Die drittletzte.
Ilse Köhler. Geboren 1906.
EINUNDZWANZIG
Gelbliches Sonnenlicht fiel durch eine Reihe von Schornsteinen in der Ferne. Auf der anderen Straßenseite wogte ein Weizenfeld sacht im morgendlichen Licht des spätsommerlichen Augusts. Während Kraus aus dem Fenster seines Hotelzimmers blickte, schoss ein Falke vom Himmel, packte ein Nagetier und flog damit davon. Aus irgendeinem Grund erinnerte ihn das an jenen Nachmittag im Viehhof, an diese riesige, wie ein Mann gekleidete Frau. Er hatte große Schwierigkeiten gehabt, sie überhaupt zu verstehen. Hatte sie nicht einen ganz ähnlichen Dialekt gehabt wie der, den man hier sprach?
Pünktlich um acht standen sie im Postbüro und telefonierten nach Berlin. Kraus wies Ruta an, mit Direktor Gruber im Centralviehhof Kontakt aufzunehmen und herauszufinden, ob irgendjemand, sei es Geschäftsinhaber, Angestellter oder Arbeiter, unter dem Namen Köhler registriert war.
»Sorgen Sie dafür, dass er nicht
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