Kindersucher
stand der Mund offen.
Kraus’ Herz hämmerte heftig. Er konnte praktisch seinen Cousin Kurt im Institut reden hören: ... Höchstwahrscheinlich ist das eine ritualisierte Wiederholung der Qualen, die er selbst einst erduldet hat. Ich vermute, unser Mörder muss sich als Kind gefühlt haben, als wäre er praktisch in Einzelteile zergliedert.
»Wieso haben Sie das niemals jemandem erzählt, Alfred?«
»Sie machen wohl Witze!« Der Mann wurde aus der Vergangenheit zurückgerissen. »Axel hat mich gezwungen, auf einen ganzen Stapel von Bibeln zu schwören, dass ich keiner Menschenseele etwas davon verrate. Wenigstens sind die Zwillinge zur Schule gegangen. Aber die Kleine nicht, o nein. Meine jüngere Schwester war so alt wie sie, hat Ilse aber niemals auch nur gesehen. Ich kann mich daran erinnern, dass Axel sagte, sie wäre schwer krank geworden und ihr ganzes Gesicht wäre mit Pusteln bedeckt. Er nannte es Pocken. Aber sie ist nicht daran gestorben. Sie war ziemlich zäh und wurde immer härter. Und gemein. Junge, ich werde niemals dieses eine Mal vergessen, als Axel und ich grauenvolle Schreie aus ihrem Hof hörten. Wir sind hingelaufen, und da saß sie, lang aufgeschossen und dürr, mit großen Augen. Sie kann nicht älter als neun gewesen sein. Sie hatte ein Kaninchen auf einen Rahmen gespannt – ein lebendiges Kaninchen! – und zog ihm die Haut ab, wie eine Mutter einem störrischen Kind die Kleider vom Leib reißt. Ich kann immer noch die Schreie dieser armen Kreatur hören, Herr Kriminalsekretär. Ich musste das Tier mit einem Prügel aus seinem Elend befreien. Ilse erklärte mir, ihre Schwester hätte ihr versprochen, ihr eine Handtasche zu machen, wenn sie ihr die Haut gäbe.«
Kraus schüttelte sich, als er begriff, dass Ilse Helga wahrscheinlich diese oder ähnliche Geschichten erzählt hatte, die letztere dann so weit wie möglich in ihrem Unterbewusstsein vergraben hatte – bis zu jenem Tag auf dem Friedhof, als dieses Kaninchen über den Weg hoppelte. Kein Wunder, dass Helga fast hysterisch geworden war. Ilse hatte gedroht, ihr dasselbe anzutun, sie bei lebendigem Leib zu häuten.
»Haben die Zwillinge auch in der Lederfabrik ihres Vaters gearbeitet?«
»Das haben wir alle. Fast zwei Jahre, von dem Moment an, als der Krieg ins Stocken kam, bis zu dem Moment, wo Axel und ich unseren Einberufungsbescheid bekamen, 1917. Er ist natürlich niemals hingegangen, nach dem, was mit seinem Vater geschehen ist. Davon haben Sie ja sicher gehört. Ziemlich kreativ, oder? Mich hat das immer beeindruckt, wie sie ihn aufgehängt haben, damit die ganze Stadt ihn sehen konnte, so als wollten sie sagen: ›Scheiß auf dich, Niedersedlitz!‹ Ich meine, die Leute wussten, was er ihnen antat. Alle wussten es. Jeder schlug seine Kinder. Aber das da ...«
»Erinnern Sie sich daran, welche Art von Arbeit die Kinder in der Fabrik hatten?«
»Ja, klar.« Bachmann begriff den Zweck dieser Frage nicht, hatte jedoch keine Schwierigkeiten, darauf zu antworten. »Haben Sie jemals ein Foto von Axel gesehen? Er war gebaut wie ein Bär. Und Magda ebenfalls. Ilse dagegen war ziemlich dürr. Aber Axels Arme ... sie waren doppelt so dick wie meine, noch bevor er anfing, Gewichte zu stemmen. Natürlich haben sie ihn für Schwerstarbeit eingesetzt; er musste Ballen mit Häuten schleppen. Aber als der Krieg weiterging, haben wir alle das gemacht, was gerade anlag ... einkaufen, bestellen, Waren ausliefern. Magda wurde als Kunsthandwerkerin angelernt.« Die Erinnerung schien Bachmann zu freuen. »Man hat ihr all die Feinheiten beigebracht ... das Färben von Leder und wie man es perfekt vernäht. Sie hätte einen richtig guten Beruf daraus machen können, wenn nur ...«
Plötzlich stand Schwester Schmidt mit einem kurzen Schlauch und einem Gummibeutel voll Wasser neben ihnen. »Sechzehn Uhr.«
Kraus versuchte es mit einem Lächeln. »Das hier ist eine ziemlich wichtige polizeiliche Untersuchung. Kann das nicht vielleicht warten?«
»Tut mir leid, Herr Kriminalsekretär.« Sie rollte ihre Ärmel hoch. »Es warten noch ein Dutzend andere auf meine Dienste. Alle reden sie wie harte Männer, aber es sind einfach nur große, hilflose Babys, mehr nicht. Sie können sich ohne meine Hilfe nicht einmal mehr entleeren. Aber lassen Sie sich nicht stören.« Sie spuckte in die Hände und riss an einem Hebel, so dass der Harnisch sich verschob und Bachmanns Gesicht sich auf die Matratze senkte. Der Krankenhauskittel rutschte hoch und
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