Kindersucher
sofort, worum es sich handelte: verfaulendes Fleisch. Er fühlte sich für einen Moment in die Feldlazarette an der Front zurückversetzt. Nur herrschte hier eine nahezu unwirkliche Stille. Stumm vor Schreck starrten acht oder neun kleine Jungen sie an.
Sie wirkten wie Kreaturen aus den Tiefen des Ozeans. Ihre Köpfe waren kahl rasiert, ihre Augen traten ihnen fast aus den Höhlen. Ihre Ohren standen von den Köpfen ab. Sie waren so abgemagert, dass ihre Schlüsselbeine ihre Haut zu durchbohren drohten. Aber es waren eindeutig Jungen, die an niedrigen Tischen saßen, auf denen Lampen standen. Jeder der Jungen war mit einer anderen Arbeit beschäftigt. Kraus’ Blick glitt zu ihren nackten Füßen mit aufgescheuerten Knöcheln, an denen sie an den Boden gekettet waren. Wie ... Sklaven.
Ein größerer Junge, nicht ganz so abgemagert, offenbar der Aufseher, patrouillierte mit einem dünnen Rohrstock vor ihnen auf und ab. Er starrte die Eindringlinge ebenfalls stumm und staunend an, als wären die Knochen im Keller wieder zum Leben erweckt worden und hätten sich erhoben.
Niemand zuckte auch nur mit der Wimper, so verblüffend war der Anblick für beide Seiten.
Nur der Reporter presste sich eine Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.
Zwei große Bottiche, die von orangefarbenen Flammen geheizt wurden, verstärkten die höllische Atmosphäre noch. In einem befanden sich Knochen. Auf einem Wagen daneben lagen saubere weiße Waden- und Schienbeinknochen. Im zweiten Bottich, das vermutete Kraus wegen der Eimer mit dickem, grauen Fett, der daneben stand, kochte vermutlich Gelatine oder Seife. Das war einer der Gründe für den ekelhaften Gestank, wenngleich auch nicht der einzige. Denn an der gegenüberliegenden Wand standen lange Holzregale, auf denen Stränge mit blutigen Sehnen hingen, aufgefädelt wie Nudeln. Zwei kleine Jungs rollten sie zu den dünnen Fäden, die Magdas Markenzeichen waren. Neben ihnen bohrten zwei noch abgemagertere Kinder mit Handbohrern Löcher in Fingerknöchel und reichten die fertigen Produkte einem dritten Kind, das sie mit Sandpapier glatt rieb. Ein weiterer Junge saß an einer Nähmaschine und trat das Pedal mit den Füßen, so wie Kraus’ Mutter es zu tun pflegte. Nur dass seine Mutter ganz sicher keine menschlichen Häute zusammengenäht hatte.
Auf der anderen Seite der höllischen Werkstatt lagen nackte Leichen auf einem hölzernen Handkarren. Eine davon war bereits zergliedert worden, den Resten nach zu urteilen, die auf einem Hackklotz daneben lagen. Die beiden anderen Leichen in dem Karren kamen Kraus bekannt vor. Er hatte ihre Fotos vor kurzem erst gesehen: Es waren die Söhne des Industriellen, die von ihren Pferden im Tiergarten verschwunden waren. Ihm schnürte sich erneut die Kehle zu, als er bemerkte, dass beiden Kindern der rechte Arm fehlte. Und die Schädeldecke beider Köpfe schien aufgemeißelt worden zu sein.
Plötzlich kam von der kurzen Treppe, von der aus man diese Kammer des Schreckens überblicken konnte, ein lautes Quietschen wie von rostigen Angeln. Eine Tür öffnete sich. Angestrahlt vom Licht einer Lampe hinter ihr warf Magdas monströser Leib einen langen Schatten über die stummen Kinder. Die weiße Schürze, die sie angelegt hatte, war vollkommen blutbesudelt; ihr ganzes Gesicht war damit verschmiert, ihr Haar, ihre Hände. Eine Sekunde lang stand sie einfach nur da und sah Kraus an, als wüsste sie nicht genau, wer er war. Dann verzog sie das blutverschmierte Gesicht zu einem grauenerregenden Lächeln, wie ein kleines Mädchen, das froh ist, ihren geliebten Papi zu sehen, und hob wie zum Gruß stolz den Armknochen eines Kindes hoch.
BUCH VIER
Turm des Schweigens
SECHSUNDZWANZIG
Berlin, September 1930
Der mächtige Suchscheinwerfer auf dem gigantischen Funkturm über Wilmersdorf suchte den Nachthimmel ab, und seine Antenne schickte Hochfrequenzwellen in das Herz von Europa. Ein hoch aufragendes Symbol von Berlin als Sendbote der Modernität.
Etwa in Höhe des ersten Drittels seines gusseisernen Skeletts, zugänglich durch einen Aufzug, lockte das Terrassenrestaurant mit einem wunderbaren Ausblick und mit den Rhythmen erstklassiger Tanzorchester. Von hier oben aus schien einem die ganze Stadt zu Füßen zu liegen. Im Norden lag das alte Charlottenburger Schloss mit seinen ausgedehnten Barockgärten. Im Westen die flache, grüne Fläche des Grunewaldes. Im Süden das adrette Wilmersdorf, mit seinen hübschen Plätzen, den ehrwürdigen
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