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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Knochen gefüllt.
    »He, sehen Sie, da.« Gunther leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Wand darüber.
    Auf sämtliche Steine waren Namen und Daten eingetragen:
    Ernst Adler – 26. 6. 28
    Christof Fürth – 16. 3. 29
    Jemand hatte sich große Mühe gegeben, all das mit einem Messer in Druckbuchstaben in die Steine zu ritzen. Jeder einzelne Ziegelstein in der gesamten Wand war auf diese Art und Weise beschriftet. Es mussten weit mehr als hundert Namen sein. Die frühesten datierten, wie Kraus sah, auf das Jahr 1924. Das war das Jahr, als die Köhlers angefangen hatten, statt Hunde Kinder zu entführen.
    Kraus warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs. Gruppe zwei war bereits aufgebrochen. Magda war irgendwo über ihnen. Er hatte noch vier Minuten Zeit, sie zu finden und sie zu schnappen, bevor ihre Tür eingetreten wurde. Aber es gab keinen offensichtlichen Weg hier heraus; sie schienen in einer Zisterne gefangen zu sein. Es gab keine Stufen, keine Türen. Und die Decke musste gut sieben Meter hoch sein. Wie zum Teufel bekam sie diese Jutesäcke hier herunter?
    Es war erneut Gunther, der es zuerst bemerkte.
    »Sehen Sie da oben, Chef.« Er deutete auf zwei Schienen, die in die Wand eingelassen waren und die bis in den ersten Stock hinaufführten, wo man gerade noch zwei Holztüren erkennen konnte. »Wir hatten so einen in unserer Scheune. Ein Getreideaufzug.«
    »Aber wie funktioniert er? Es gibt hier keine Elektrizität.«
    Gunther schob Säcke zur Seite, bis er eine wacklig aussehende, hölzerne Plattform fand, die mit Seilen und Rädern mit den Schienen verbunden war. »Man dreht diese Kurbel, die wiederum diese Flaschenzüge bedient.« Er zeigte es ihnen.
    Kraus schluckte. Das war keine besonders vielversprechende Möglichkeit. Selbst wenn dieses uralte Gerät hielt, konnte immer nur eine Person gleichzeitig darauf steigen. Außerdem war der Aufzug vermutlich Gott weiß wie lange nicht mehr geölt worden und würde genug Krach machen, um selbst die Toten zum Leben zu erwecken.
    Aber was hatte er für eine Wahl?
    Er schickte Gunther als Ersten hinauf und konnte kaum hinsehen, als der Junge langsam hochgefahren wurde. Die beiden Polizisten, die die Flaschenzüge bedienten, brachen in Schweiß aus, aber sie arbeiteten langsam, so dass der Lärm auf ein Minimum reduziert blieb. Als Gunther endlich oben war, signalisierte er flüsternd, dass es hier eine einigermaßen geeignete Plattform gab, auf der fünf bis sechs Männer Platz fanden. Was auch gut wäre, dachte Kraus, denn wenn sie diese Türen mit Gewalt öffneten, wollte er mit möglichst vielen Leuten hindurchstürmen.
    Kraus ging als Nächster. Während er immer weiter hinauf ruckelte, musste er seine Zweifel unterdrücken. Vielleicht hatte Magda bereits das Knarren der Flaschenzüge gehört und floh durch irgendeinen Ausgang, den sie nicht kannten. Oder aber sie stand mit erhobenem Hackebeil hinter der Tür, bereit, zuzuschlagen. Er blickte hinab. Ein durchtrenntes Seil, und sein Rückgrat würde so leicht brechen wie eine Brezel. Dann jedoch richtete er seinen Blick mit Mühe wieder hinauf und begriff, wie nah er nach all dieser Zeit seinem Ziel endlich gekommen war. Es spielte keine Rolle mehr, ob der Ursprung all dessen Brunos Vater oder dessen Vater war oder ob die Schuld bis zurück zu Adam reichte. Jetzt war nur noch wichtig, dass er all dem ein Ende bereitete, ein für alle Mal, dass er das qualvolle Vermächtnis der Köhlers beendete. Er erhob sich über die Gedenkstätte aus Namen, und als der feuchte Rost von den eisernen Schienen sickerte, sah es aus, als würden die Wände selbst Blut weinen.
    Drei Schutzpolizisten kamen als Nächste – sie wurden von Rollmann und Eberhard hinaufgefahren –, dann kam Wörner mit schussbereiter Kamera. Die ganze Zeit über tickte die Uhr. In weniger als zwei Minuten würde Gruppe zwei die Türen aufbrechen. Als sich schließlich alle auf der Plattform drängten, setzte ein Schutzpolizist ein Brecheisen zwischen den Türen an. Kraus’ Herz schlug heftig. Von dem Tag an, an dem er den bizarren Inhalt dieses Jutesacks gesehen hatte, hatte er geahnt, dass er es mit etwas wahrhaft Schrecklichem zu tun hatte. Und jetzt wollte er es eigentlich gar nicht sehen.
    Als die Türen sich öffneten, war das Erste, das Kraus wahrnahm, dieser Geruch. Eine lange, dunkle Kammer öffnete sich vor ihnen ... Ihn traf kein Beil, sondern ein Gestank, der so scharf war, dass er ihnen fast in den Nasen ätzte. Kraus wusste

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