Kindersucher
Mietskasernen und den festlichen Lichtern des Lunaparks. Im Osten die eleganten Geschäfte, Cafés und Filmtheater am von Bäumen gesäumten Ku’damm, der ins Herz der Stadt führte. Es war ein durchaus angemessener Aussichtspunkt, um Kraus’ fünfunddreißigsten Geburtstag zu feiern.
Die haarsträubenden Fotos von Wörner, zusammen mit seinem schier herzzerreißenden, wenn auch etwas ungenauen Bericht aus erster Hand, in dem er verkündete, der Fall des Kinderfressers sei gelöst, hatten Kraus zum Nationalhelden gemacht: zum Bezwinger der Bestie. Am Ende dieser Woche prangte sein Gesicht auf den Titelblättern von Zeitungen in ganz Deutschland. Der Kanzler hatte angerufen, um sich bei ihm zu bedanken. Sigmund Freud hatte ebenfalls mit ihm telefoniert, um gewisse Einzelheiten des Falles mit ihm zu diskutieren. Selbst Kommissar Horthstaler, dem nicht im Traum eingefallen wäre, diese Geburtstagsfeier zu versäumen, hatte sich so oft wie möglich mit Kraus ablichten lassen und jedem, der es hören wollte, nachdrücklich versichert, er hätte immer schon gewusst, dass er eine wahrhaftige Spürnase in seiner Abteilung hatte.
Etwa hundert Menschen mussten auf dieser Party aufgetaucht sein, die sein Schwiegervater ausgerichtet hatte, was ihm, wie er sagte, eine Ehre sei. Das Orchester spielte gerade »It Will Never Be Like This Again«, und während Kraus und Vicki sich in dem sanften Foxtrott wiegten, kamen ständig Leute zu ihm, die sich mit ihm zusammen fotografieren lassen wollten und ihn um ein Autogramm baten.
»Nun mach schon, um Himmels willen!«, drängte Vicki ihn.
»Danke, dass Sie uns unsere Stadt zurückgegeben haben.« So lautete der allgemeine Tenor.
Ganz Berlin atmete erleichtert auf. Schulen, Spielplätze, Waisenhäuser, selbst die Banden der Wilden Jungs konnten sich jetzt entspannen, nachdem der Kinderfresser hinter schwedischen Gardinen saß.
Aber auch, wenn niemand sonst es zugeben wollte, Kraus wusste, dass noch nicht alles ausgestanden war.
Magda war nach ihrer Festnahme ohne jeden Widerstand mitgekommen. Sie befand sich in einem Zustand schwerster Regression, während man ihr Handschellen anlegte, und murmelte während der ganzen Fahrt zum Alex »Ringel, Ringel, Reihe«, selbst als man sie in die Zelle sperrte.
Ringel, Ringel, Reihe
wir sind der Kinder dreie ...
Ihre Geheimnisse dagegen waren ihr keineswegs so leicht zu entlocken gewesen.
Während Gruppen von Ärzten der Charité sich bemühten, die Jungen zu retten, die sie als Sklaven gehalten und gefoltert hatte, verhörten Kraus und Gunther Magda in ihrer Zelle. Man hatte sie mittlerweile einigermaßen vorzeigbar gemacht, ihr Gefängniskleidung und ein sauberes weißes Kopftuch verpasst und sie gewaschen. Aber sie hatte einen grauenvollen Mundgeruch; Kraus sah, dass die Hälfte ihrer Zähne schwarz und verfault war. Trotz des Kopftuchs war nichts an dieser Frau weiblich. Und ihre große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder bereitete Kraus starkes Unbehagen.
Dieser Wahnsinnige hatte erst einen Tag zuvor Kraus beinahe den Kopf abgeschlagen.
Zunächst schien Magda kooperativ zu sein, klang fast vernünftig. Und brachte zu ihrer Verteidigung grimmige Ausreden hervor.
»Glauben Sie, ich hätte das gewollt?« Sie klang weniger wütend als Axel, dafür jedoch erheblich verbitterter. »Er hat mich da unten eingesperrt. Glauben Sie, ich hätte eine Wahl gehabt? Man hat mir genau vorgegeben, wie viel ich zu produzieren hatte; genau wie während des Krieges.«
Es erleichterte Kraus, dass Magda zumindest die Realität wahrnahm, auch wenn sie möglicherweise nicht wirklich mit ihr in Kontakt stand.
»Wer hat Sie eingesperrt, Magda?« Er merkte, dass sie sehr genau wusste, wer er war und auch, dass sie sich schon einmal zuvor gesehen hatten. »Wer hat Sie gezwungen, all diese schrecklichen Dinge zu tun?«
»Das wissen Sie ganz genau.« Magda warf ihm einen verschlagenen Blick zu und verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Meine bessere Hälfte.«
Sie konnte einem fast leidtun. Diese Frau hatte in ihrer Kindheit derartig viele Qualen erlebt, dass sich in ihren Augen mehrere Schichten Schmerz zu spiegeln schienen. Doch als er sich ins Gedächtnis rief, wie sie ihn bei ihrem ersten Treffen getäuscht hatte, wurde ihm klar, dass sie genau auf dieses Mitleid abzielte.
»Sie meinen Ihren Bruder?«
Magda schüttelte sich und schien sich von etwas zu befreien. Dann blickte sie mit gesenktem Kopf zu Kraus hoch, kicherte und verfiel in einen derartigen
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