Kindersucher
einem Türsteher und einer Concierge.
Nein, sagte man ihm, nein. Die Frau Doktor war in den letzten drei Tagen nicht aufgetaucht. Allerdings, vermutete man, hatte sie vielleicht ihren Müll aus Versehen in der Wohnung liegen lassen, weil der Geruch dort oben wirklich eklig war ...
Kraus verlangte, die Wohnung augenblicklich zu sehen.
Die Concierge machte sich nervös an dem Schloss zu schaffen. »Mein Gott. So eine nette Dame. Ich hoffe, es geht ihr gut.«
Als sie die Wohnung betraten, traf sie der Gestank wie ein Vorschlaghammer. Frau Doktor Riegler ging es so gut, wie es einem drei Tage alten Leichnam gehen konnte. Sie war steif wie ein Brett, ihr Gesicht war dunkelviolett angelaufen und aufgebläht. Aber sie lag friedlich im Bett – und umklammerte eine kleine Glasphiole, auf der ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen aufgedruckt war. Keine Nachricht. Gar nichts. Nur eine hungrige braune Katze, die miauend auf dem Fensterbrett saß. Kraus stand am Bett, überwältigt von Mitleid, das ganz allmählich Wut Platz machte. So weit hätte es nicht kommen müssen.
Und er vermutete, dass es nur eine einzige Person gab, die wusste, warum es doch so weit gekommen war.
Heilbutts Adresse stand im Telefonbuch. Er wohnte am Rand von Berlin. Kraus musste sich von der U-Bahn-Station durch einen Sturm kämpfen, um Heilbutts Straße zu erreichen. Der heftige Wind erinnerte ihn an diesen entsetzlichen Winter 1917 in den Schützengräben. Natürlich war es damals erheblich schlimmer gewesen. Er hatte zwar deutlich weniger Jahre auf dem Buckel gehabt, hatte aber nicht gewusst, ob er zehn Minuten später noch am Leben sein würde. Jetzt dagegen war er sich ziemlich sicher, dass er die Person, nach der er suchte, finden, der Sache auf den Grund gehen und überleben würde.
Er drückte auf den Klingelknopf neben dem Namen HEILBUTT, aber niemand reagierte. Seine Fingerspitzen waren taub vor Kälte. Er flüchtete sich hastig in einen Tabakladen an der Ecke. Dort war es wenigstens warm, aber der Besitzer hatte von einem Herrn Heilbutt noch nie gehört. Und Kraus hatte kein Foto. Da er keine Lust verspürte, sich wieder der Kälte zu stellen, blieb er noch ein bisschen im Laden und überflog die Schlagzeilen der Nachmittagszeitungen: Hansa Auto entlässt ein Drittel seiner Belegschaft ... Arbeitslosigkeit erreicht neuen Höchststand ... die meisten Kinder, die in Berlin als vermisst gemeldet wurden, waren am Abend wieder aufgetaucht. Kraus tankte noch etwas warme Luft und zwang sich dann, durch die Tür ins Freie zu treten.
Zum Glück ließ die Belohnung für seine Hartnäckigkeit diesmal nicht lange auf sich warten. Auf der anderen Straßenseite, in Schmidts Figaro Salon, behaupteten sowohl der Friseur als auch sein Gehilfe, Heilbutt bereits viele Jahre zu kennen. Sie gerieten allerdings in Streit, wohin der Mann seinen Worten zufolge hatte reisen wollen.
»Nach Bremen.«
»Nach Bremerhaven.«
»Gut, vielleicht nach Bremerhaven, aber mit der Bremen .«
»Die Bremen? « Kraus musste die Information erst verdauen. »Sie meinen den Überseedampfer?«
»Welche andere Bremen gibt es denn noch?« Der Friseur sah ihn missbilligend an. »Herr Heilbutt sagte, es würde ihn zwar ein Vermögen kosten, aber so etwas machte man ja auch nur einmal im Leben. Er wollte seine Schwester in Amerika besuchen. Also hat er sich seine Pension auszahlen lassen und sie gleich auf den Kopf gehauen.«
»Wann war das?«
»Vorgestern.«
»Nein, es war Dienstag.«
»Vorgestern war Dienstag!«
Kraus warf einen Blick auf seine Armbanduhr: viertel nach vier. Er brauchte zwar ein Wunder, das war ihm klar, aber er klappte den Kragen hoch, stürzte sich in den schneidenden Wind und erreichte, völlig außer Atem, die U-Bahn-Station. In diesem Moment lief gerade ein Zug ein, und obwohl er zweimal umsteigen musste, schaffte er es zehn Minuten vor Ladenschluss zum Passagierschalter des Norddeutschen Lloyd, der sich Unter den Linden befand. Dort hatte man gute Nachrichten für ihn. Falls Heilbutt tatsächlich Deutschland auf der Bremen verlassen wollte, war der Mann noch im Lande. Denn das Schiff würde erst am Abend des folgenden Tages auslaufen. Bedauerlicherweise hatte man hier zwar keine Passagierlisten, aber man konnte ja in Bremerhaven anrufen.
»Wenn Sie so freundlich wären.«
Kraus wartete.
»Sind Sie sicher? ... H-E-I-L-B-U-T-T ... gut, danke. Tut mir leid, mein Herr. Es sieht nicht so aus, als würde ein Herr Heilbutt morgen mit uns
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