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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Bootsdeck. Was hätte er nicht für ein solches Fernglas damals hinter den französischen Linien gegeben! Auf der Gangway der ersten Klasse bemerkte er die gereizte Miene einer Frau, die zwei Pekinesen und ihren Ehemann mit sich herumschleppte. Und dann, in der Touristenklasse, eine Familie, die aufgeregt in Ferien fuhr und deren Kinder sich kaum beherrschen konnten. Einen Moment lang fantasierte er, wie es wohl wäre, seine eigene Familie auf einen Ausflug nach Amerika mitzunehmen. Die Kinder würden es lieben. Und es wäre wundervoll, auf einem großen Schiff in den Hafen von New York einzulaufen, vorbei an der Lady mit ihrer erhobenen Fackel und dabei Vicki am Arm.
    Das würden sie machen. Irgendwann. Bald.
    Er richtete den Feldstecher auf den Kontrollpunkt an der Gangway zur dritten Klasse. Dort schleppten etliche junge Leute mit Arbeitermützen und Halstüchern schwere Segeltuchtaschen. Sie umklammerten Tickets, die sie in ein, wie sie zweifellos hofften, besseres Morgen bringen würden. Seit fünfundsiebzig Jahren war Bremerhaven einer der Haupthäfen für die Auswanderung nach Amerika, und zwar nicht nur für Menschen aus Deutschland, sondern aus ganz Europa. Viele Millionen Emigranten waren von hier aus in die neue Welt aufgebrochen.
    Heilbutt hatte offenbar vor, es ihnen gleichzutun.
    In welcher Klasse würde er reisen? Für einen Mann seiner sozialen Stellung war eigentlich die Touristenklasse die passende; aber laut dem Friseur hatte Heilbutt erwähnt, dass die Reise ihn ein Vermögen kostete, also hatte er sich vielleicht ein besseres Ticket geleistet.
    Kraus konnte nichts anderes tun als Ausschau halten.
    In den nächsten zwei Stunden stand er an Deck und beobachtete die Menge.
    Es wurde allmählich Abend. Im Rumpf des Schiffes leuchteten Lichter hinter Bullaugen auf und tauchten das Wasser darunter in schimmerndes Silber. Die Frachtrampen wurden eingezogen. Glockensignale verkündeten, dass es noch eine Stunde bis zur Abfahrt dauerte. Kraus wurde es unbehaglich zumute. Er konnte nicht für immer hier auf der Brücke stehen. Es wäre pures Glück, wenn er Heilbutt jetzt noch erblickte, also beschloss er, an Deck herumzulaufen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen.
    Der Überseedampfer war riesig und prunkvoll. Kraus kam an luxuriösen Speisesälen vorbei, an Spielzimmern, Rauchsalons und Schwimmbecken, Boutiquen und Theatern. In den langen Gängen drängten sich Leute vor ihren Privatkabinen, um sich von denen zu verabschieden, die nicht mitfuhren. Die ganze Welt schien an Bord zu sein – außer Heilbutt. Schließlich marschierten uniformierte Stewards umher und schlugen dreistimmige Gongs und verkündeten, dass es nur noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt dauerte. Alle Gäste sollten sich jetzt bitte umgehend zu den Ausgängen begeben.
    Da sah Kraus ihn.
    Ein Stück weiter im Gang. Das unverwechselbare, mürrische Gesicht war genauso wenig zu übersehen wie die Furcht, die sich darauf abzeichnete, als er Kraus erkannte. Heilbutt mochte über sechzig sein, aber er drehte sich reaktionsschnell auf dem Absatz herum und stürmte mit der Behändigkeit einer Bergziege die Treppe zur dritten Klasse hinab.
    Er hatte einen gewaltigen Vorsprung. Leute, die das Schiff verlassen wollten, versperrten Kraus den Weg. Er musste durch schmale Gänge rennen, die von nilpferdgroßen Hausfrauen und Bürgern mit Bierbäuchen verstopft wurden, und er spürte mehr als einen Schlag auf seinem Rücken, als er sich rücksichtslos an ihnen vorbeidrängte. Im Lesesaal der dritten Klasse glaubte er Heilbutt zu sehen, wie er aus der Hintertür rannte, aber obwohl er durch einen Gang nach dem anderen rannte, einen Raum nach dem anderen durchquerte, fand er den Mann nicht wieder.
    Schließlich trat er wütend auf das Promenadendeck der dritten Klasse hinaus und starrte auf die Fahne mit dem Schwarz-Rot-Gold der Republik, die an der Fahnenstange am Heck im Wind flatterte. Er hatte das Ende des Schiffes erreicht. Hier draußen war es eiskalt. Er hörte, wie die Stewards die Abfahrt des Schiffes in fünfzehn Minuten verkündeten. Was sollte er tun? Sollte er zum Kapitän gehen? Damit er die Abfahrt verzögerte und sämtliche Passagiere der dritten Klasse aufforderte, an Kraus vorbeizupromenieren? Oder sollte er den alten Mann in Frieden fliehen lassen? Sollte er einfach akzeptieren, dass sie vertuschten, was auch immer sie so unbedingt vertuschen wollten, nach Hause zu seiner Frau gehen und ...
    Da war er.
    Neben der Fahnenstange.

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