Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
reisen.«
    Kraus war klar, dass der Mann Angst hatte. Was auch immer Doktor Riegler dazu gebracht hatte, sich umzubringen, es hatte Heilbutt veranlasst zu fliehen. Möglicherweise wartete er, um erst in letzter Sekunde ein Ticket zu kaufen, damit man ihn nicht aufspüren konnte. Oder aber er reiste unter einem angenommenen Namen mit falschen Papieren. Es war zwar nur eine vage Möglichkeit, aber in seinen sieben Jahren Dienst hatte Kraus eines gelernt: Wenn jemand eine Geschichte aus erster Hand kannte, dann war es gewöhnlich der Barbier.

    Am nächsten Morgen fuhr er mit dem Achtuhrzug in Berlin los. Der Zug zockelte entsetzlich langsam, wegen Gleisarbeiten. Es gab Verspätungen. Die gigantische Becks-Brauerei glitt erst um vierzehn Uhr am Fenster des Zuges vorbei, dann dauerte es eine weitere Stunde, in der die Fahrt durch Vorstädte mit roten Ziegelhäusern ging, bis sie schließlich an der Mündung der Weser und in einem der größten Häfen Deutschlands endete. Noch während der Zug in den Bahnhof einlief, konnte er bereits den riesigen, schwarz-weißen Rumpf sehen, der den Liegeplatz auf der anderen Straßenseite überragte, und die berühmten, orangefarbenen Zwillingsschornsteine der SS Bremen.
    Die Bremen war das Flaggschiff der Norddeutschen Lloyd und hatte im Jahr zuvor eine neue Ära für Überseereisen eingeleitet. Ihre schlanken Konturen und schmalen Schornsteine waren ebenso stromlinienförmig wie der Mercedes SSK. Ihr revolutionärer Bug, der sich unmittelbar unter der Wasserlinie vorwölbte, um den Widerstand des Wassers zu verringern und die Geschwindigkeit zu vergrößern, hatte sich als erstaunlicher Erfolg herausgestellt. Auf ihrer Jungfernfahrt im Juli hatte sie den Rekord der alten britischen RMS Mauretania der Cunard-Linie, die zwanzig Jahre lang die Krone des schnellsten Ozeanliners innegehabt hatte, um einen halben Tag unterboten. Auf ihrer Rückfahrt von New York unterbot sie dann ihren eigenen Rekord erneut um drei Stunden und versetzte ganz Deutschland in Begeisterung.
    Auf der Pier drängten sich bereits lärmende Menschenmengen um die Gangways. Das elegante Schiff sollte in weniger als drei Stunden ablegen. Berge von Gepäck warteten auf die Verladung, Schauerleute schrien, Kinder sprangen durch die Gegend. Kraus fragte sich, wie er in diesem Durcheinander jemanden finden sollte. Dann blickte er hinauf zur weißen Brücke des Schiffs. Es gab nur eine Möglichkeit für ihn: Hilfe von dort oben.
    Seine Kripomarke öffnete ihm die Türen. Er wurde über die Gangway der ersten Klasse direkt zum Hauptzahlmeister geführt, der, wie Kraus schnell feststellen sollte, ein großer Bewunderer der Berliner Kriminalpolizei war. »Das ganze Land applaudiert den Erfolgen unserer berühmten Kriminalisten aus der Hauptstadt«, erklärte der Mann Kraus, während er die Passagierlisten durchblätterte. »Zum Beispiel dieser Kerl, der seine Frau zerhackt und sie dann als Paket in das Kaufhaus geschickt hat, dem sie das viele Geld schuldete. Haben Sie ihn verhaftet?«
    »Nein«, erwiderte Kraus. »Das war mein Kollege Hans Freksa.«
    »Ach ja, Freksa! Ein echter Spürhund. Aber leider findet sich der Name Heilbutt nicht in meinen Listen, Herr Kriminalsekretär.«
    Da Kraus kein Foto von Heilbutt hatte, wurde der Fall direkt nach ganz oben weitergeleitet.
    »Eine Beschreibung des Mannes wird an alle Offiziere an den Gangways weitergegeben«, versicherte ihm der Kapitän, obwohl bereits seit einigen Stunden die Passagiere an Bord gingen. Kraus schlug vor, es wäre vielleicht das Beste, die ganze Angelegenheit von hier oben aus zu beobachten. »Ja, mit unseren neuen, besonders starken Feldstechern ist die Brücke genau der richtige Ort, um alles im Auge zu behalten.«
    Die Brücke entpuppte sich als wirklich spektakulärer Aussichtspunkt. Von dort konnte man das ganze, immerhin gut vierhundert Meter lange, Schiff überblicken. Er sah die Hafenanlagen, die stählernen Kräne und die Lagerhäuser von Bremerhaven sowie die breite grüne Wesermündung bis hin zum Meer. Den endlosen Himmel. So vielversprechend. Das ganze Panorama schien ihn zu locken. Selbst die Luft schmeckte süß.
    Kraus war verblüfft, wie stark dieser Feldstecher war, weit stärker als alles, was Zeiss während des Krieges hergestellt hatte. Und zudem erheblich leichter. Er konnte sogar die Mienen auf den Gesichtern von Paaren sehen, die unten auf der Promenade an dem Schiff vorbeischlenderten. Oder die Handzeichen von Seeleuten auf dem

Weitere Kostenlose Bücher