Kindersucher
ihnen übrig geblieben ist?«
»Es gibt so viele obdachlose Kinder in Berlin, Mutter«, erwiderte Ava.
Sie war ebenfalls elegant herausgeputzt. Ihr frisch geschnittener Bubikopf war hinten kurz und hing ihr vorne über ein Auge. Die Gottman-Frauen waren immer von makellosem Chic. Kraus hatte eine Schwester, die ebenso hübsch war, fand er, aber sie machte sich weit mehr Gedanken über Politik als über Kleidung. Vielleicht war es daher auch nicht weiter überraschend, dass Greta sich einer zionistischen Jugendbewegung angeschlossen hatte und ausgewandert war, um auf einer Rinderfarm in Palästina zu arbeiten. Das war mittlerweile vier Jahre her.
»Ich sehe diese armen Kinder jeden Tag auf dem Weg zu meinen Vorlesungen.« Ava schob sich die Haare aus dem Auge. »Sie kommen vom Alex oder Gott weiß woher, sitzen Unter den Linden unter den Bäumen und rauchen Zigaretten. Einige sind nicht älter als Erich. Es bricht einem wirklich das Herz.«
Bette rang dramatisch die Hände und wandte sich an Vicki. »Vielleicht sollten Stefan und Erich besser bei uns bleiben, bis sie diesen Verrückten erwischt haben.« In ihrer Jugend war Bette Schauspielerin gewesen, und Kraus’ Meinung nach hatte sie die Bühne nie vollständig hinter sich gelassen.
»Mutter«, sagte Vicki. »Sei nicht albern. Sie müssen zur Schule.«
Obwohl die Kinder nichts dagegen hätten, wenn sie hier draußen bleiben könnten, dachte Kraus. Vickis Eltern lebten in einem wunderschönen Haus im fast ländlichen Dahlem, mit einem riesigen Garten, einem echten Wald drum herum und zwei Golden Retriever, Mitzi und Fritzi, von denen die Jungs nie genug bekommen konnten. Max Gottmann hatte sehr viel Geld mit Damenunterwäsche gemacht. Hätte Vicki die Art Mann geheiratet, den ihre Mutter bevorzugte, einen der Sprösslinge der jüdischen Dynastien von Berlin, zum Beispiel einen Kaufhauserben wie Wertheim oder Tietz oder eine Verlegergröße wie zum Beispiel Ullstein oder Mosse, dann hätte sie weit luxuriöser leben können als in einer Dreizimmerwohnung am Preußischen Park. Aber Vicki hatte Kraus gewollt. Und Bette Gottmann konnte nicht behaupten, dass ihre älteste Tochter etwa unglücklich wäre.
»Gott sei Dank ist dein Ehemann nicht mit diesem Fall betraut.« Bette zupfte an ihrer Perlenkette. »Wie schrecklich. Ein Kindermörder.«
»Willi hat nichts damit zu tun.« Vicki sah ihre Mutter an, als wäre sie verärgert, dann richtete sie ihren Blick auf Kraus und verdrehte die Augen, als würde die Melodramatik ihrer Mutter sie erschöpfen.
Kraus hatte eine Handvoll Erdnüsse im Mund und sank etwas tiefer in seinen Sessel, froh, dass er nicht antworten musste. Er hatte Vicki nie von dem Tag erzählt, an dem Freksa ihm den Fall gestohlen hatte, weil er sich nicht gern über die Demütigungen beschwerte, die er bei seiner Arbeit ertragen musste. Obwohl er ihren Trost hätte gebrauchen können. Jetzt war er alles andere als traurig, dass er nichts erzählt hatte.
»Außerdem«, erklärte Vicki ihrer Mutter weiter, »verteilt die Polizei solche Fälle sehr überlegt. Kommissar Freksa ist ein Junggeselle. Niemand muss sich um ihn Sorgen machen, und er braucht sich ebenfalls um niemanden zu kümmern.« Sie trank einen großen Schluck Champagner.
»Aber trotzdem hat er eine Mutter, oder nicht?« Bette Gottmann seufzte. »Wie auch immer«, sagte sie und machte den höchst verdächtigen Versuch, das Thema zu wechseln, »habt ihr die Mode aus Paris schon gesehen?« Sie nahm ein Magazin vom Couchtisch und zeigte es ihren Töchtern. »Die Rocksäume fallen noch tiefer als die Aktien.«
Vicki riss unter ihrem dunklen Pony die Augen auf, als sie die Illustrationen musterte. »Das kann ich nicht glauben!«
»Acht Zentimeter unter dem Knie!« Ihre Schwester runzelte die Stirn. »Vielleicht gibt es ja eine große Revolte, und alle weigern sich, das zu tragen.«
»Darauf würde ich nicht bauen«, erwiderte ihre Mutter. »Sie nennen es die neue Weiblichkeit.«
»Neu? Das sieht eher aus, als wollten sie das Rad der Zeit zurückdrehen.«
»Und sie werden damit auch Erfolg haben. Merkt euch meine Worte ... die Tage des bloßen Knies sind finis, meine Lieben.«
»Die Tage von vielen Dingen sind finis«, setzte Max düster hinzu. »Wir erleben gerade das Ende einer Ära.«
»Glaubst du das wirklich?« Vicki drückte seine Schulter.
»Ich wünschte, ich könnte das Gegenteil sagen.« Er tätschelte ihre Hand. »Aber so etwas wie das, was im Moment passiert, habe ich
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