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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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noch nie erlebt.«
    Der Lingerie-Magnat warf einen Blick aus dem Fenster auf den Horizont und schien einen Abgrund zu erkennen, den sich niemand sonst auch nur annährend vorstellen konnte.
    »Vielleicht liegt es daran, dass es uns in diesen letzten Jahren so verdammt gut gegangen ist », sagte er, als einer der Retriever sein Knie anstupste, um sich streicheln zu lassen. »Als hätten wir eine Art Plateau erreicht, Stabilität, Fortschritt.« Gottmann kraulte zerstreut Mitzis Nacken. »Und jetzt ist der Vertrauensverlust umso umfassender.« Der Hund hechelte glücklich. »Alle geraten in Panik. Sie horten ihr Geld und haben zu viel Angst, auch nur einen Pfennig auszugeben. Die Preise gehen in den Keller, und es gibt eine Kettenreaktion von Bankrotten. Es ist wirklich ... verheerend.«
    Sie saßen alle stumm da, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten.
    »Wirklich, Max, ich habe dich noch nie so düster reden hören.« Bette richtete sich auf der Couch auf und spielte nervös mit ihren Perlen. »Nach allem, was wir durchgemacht haben! Was auch immer vor uns liegt, wir werden es bewältigen, wie wir es immer getan haben, als Familie und mit hoch erhobenem Haupt.«
    »Hört mal«, rief Erich vom Radio, »der Kanzler spricht.«
    »Der Kanzler! Der Kanzler!« Stefan hüpfte auf der Stelle.
    Sie scharten sich um den Radioapparat.
    »Meine lieben Deutschen ...«
    Hermann Müller hielt seine Silvesteransprache aus der Reichskanzlei. Er war Sozialdemokrat und lenkte die große Koalition aus Liberalen und Zentrumsparteien, die die Republik durch die Jahre ihres höchsten Wachstums und größter Stabilität geführt hatten. Im Oktober jedoch hatten er und seine Regierung zwei heftige Schläge einstecken müssen. Außenminister Stresemann, dem 1926 der Nobelpreis verliehen worden war, weil er Deutschland in den Völkerbund geführt hatte, war im Alter von einundfünfzig Jahren überraschend gestorben und hatte eine große Lücke hinterlassen. Dann kam der Zusammenbruch der Wall Street. Müller war alles andere als ein inspirierender Redner wie Stresemann es gewesen war. Aber trotzdem lauschten alle seiner Stimme.
    »In seiner heutigen Ansprache aus dem Weißen Haus hat der amerikanische Präsident Herbert Hoover seinem Volk versichert, dass die schlimmste Phase wirtschaftlicher Not hinter uns liegt. Die industrielle Produktion und der Welthandel befinden sich deutlich im Aufschwung. Und ich möchte unserem Volk dasselbe versichern: Deutschland ist dabei, sich zu erholen.«
    Kraus konnte sehen, dass Max dem Kanzler nicht glaubte. Aber Bette achtete nicht auf ihn.
    »Seht ihr?« Sie öffnete die Hände. »Ich sage, darauf trinken wir! Willi, mach den Champagner auf.«
    Kraus gehorchte mit einer kleinen Verbeugung und schenkte ihnen allen ein. Dann erhob er als Erster das Glas auf ein glückliches und gesundes 1930.

NEUN

    Das neue Jahrzehnt begann alles andere als vielversprechend.
    Am zweiten Januar wurden am eisigen Ufer der Spree in der Nähe von Treptow drei Beinknochen von Kindern angespült. Sie waren mit einer nicht näher bezeichneten Substanz zusammengebunden. Zwei Tage später stolperte eine Gruppe von Nonnen am Ufer der Museumsinsel, direkt neben der Nationalgalerie, über einen Kinderschädel.
    Ganz Berlin stand erneut unter Schock.
    Hatte die vergiftete Wurst schon Angst und Schrecken verursacht, entfesselte der Kinderfresser blankes Entsetzen. Von einem Ende der Stadt bis zum anderen, angefangen von den vornehmsten Vierteln um den Tiergarten herum bis zu den ärmsten von Neukölln, legten Eltern ihre Kinder an die Leine. Schulen ordneten an, dass sämtliche Türen und Fenster verriegelt sein mussten, und stellten Wachen an allen Eingängen auf. Kinder durften nur noch in Gruppen herumlaufen. Da Kraus seine Jungs regelmäßig zur Schule brachte und Vicki sie anschließend abholte, dauerte es nicht lange, bis sie einen ganzen Konvoi von Kindern eskortierten, in dem nicht nur Heinz Winkelmann mitging, sondern ein halbes Dutzend anderer Kinder aus dem Block.
    Mit der allgemeinen Anspannung und dem Stress hielten nur noch die ausufernden Spekulationen mit, wer denn dieses blutrünstige Monster wohl sein mochte. Nachbarn beargwöhnten Nachbarn, niemand war prinzipiell unverdächtig. Da es so wenig Hinweise gab, konnte es praktisch jeder sein. Und was war eigentlich mit den verschwundenen Jungen? Warum hatte niemand sie als vermisst gemeldet? Kraus war sich ziemlich sicher, dass seine Schwägerin Ava den Sachverhalt

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