Kindersucher
nicht so weit bei der Polizei gebracht, weil er seine Ahnungen ignoriert hatte. Also machte er sich an die Verfolgung.
Es herrschte jedoch Feierabendverkehr, und die Bürgersteige waren überfüllt von Menschen, die aus Geschäften und Büros strömten. Es war nahezu unmöglich, mit niemandem anzustoßen. Der Junge warf einen Blick über die Schulter, und als er sah, dass Kraus ihm folgte, beschleunigte er seine Schritte noch. Kraus bahnte sich rücksichtslos den Weg durch die Menschenmenge, und die Passanten riefen ihm wütende Flüche nach. Jemand schlug ihn mit einer zusammengerollten Zeitung auf den Rücken. Aber er holte allmählich auf und hätte fast den wollenen Poncho zu packen bekommen, als der Junge auf die Straße zwischen den lebhaften Verkehr rannte, eine vorbeifahrende Straßenbahn erwischte, zwischen die Wagen auf die Kupplung sprang und zu entkommen drohte. Kraus keuchte, stieß ein kurzes Gebet aus, dass die Sache sich wirklich lohnte, wartete auf den letzten Wagen der Straßenbahn, sprang ebenfalls auf die Straße, erwischte die Haltestange an der letzten Tür und klammerte sich an den Wagen wie ein Feuerwehrmann im Einsatz.
Der Fahrtwind hätte ihm beinahe den Hut vom Kopf gerissen, als die Bahn in einer scharfen Kurve auf die Kaiser-Wilhelm-Straße einbog. Und mehr als einmal hätte ihn fast ein dicker Ast vom Wagen gefegt. Aber der Junge schien nicht bemerkt zu haben, dass Kraus ihm gefolgt war. Als die Straßenbahn über den Fluss ratterte und neben dem Haupteingang zur Kathedrale langsamer wurde, sprang Kraus vom Wagen und folgte dem Jungen in den Lustgarten, das herausgeputzte Zentrum der Altstadt. Es war ein riesiger Platz mit Statuen und Springbrunnen, umringt von den monumentalsten Gebäuden Berlins.
»He, Moment mal.« Endlich hatte Kraus den Jungen erreicht und packte ihn entschlossen an der Schulter. »Ich will nur mit dir reden. Ich arbeite in derselben Abteilung wie Kriminalsekretär Freksa.«
Der Junge erstarrte und drehte sich dann langsam herum. Jetzt sah Kraus zum ersten Mal, dass seine Augen mit schwarzem Mascara und violettem Lidschatten geschminkt waren. Seine Lippen schimmerten pinkfarben, und die Fingernägel waren in einem schmutzigen Grün lackiert. Aber etwas Zerbrechliches im Blick der blauen Augen ermöglichte Kraus, die Maskerade zu durchschauen und das verängstigte Kind dahinter zu erkennen. Das verzweifelt genug war, um offenbar mehrfach einen dieser bedrohlichen Beamten der Kriminalpolizei anzusprechen. Kraus hatte das Vertrauen des Jungen jedoch offensichtlich noch nicht gewonnen, und das änderte sich auch nicht, als er ihm seine Polizeimarke zeigte. Der Junge stand da und starrte ihn an, während seine goldene Kreole herunterbaumelte und seine Brust sich unter seinen angestrengten Atemzügen hob und senkte.
»Ich habe nichts angestellt«, murmelte der Junge schließlich.
»Davon ist auch nicht die Rede. Ich will nur wissen, worüber du mit Kriminalsekretär Freksa reden wolltest. Es schien wichtig zu sein.«
Der Junge presste seine geschminkten Lippen zusammen.
»Hör zu!« Kraus hatte allmählich die Nase voll. »Ich kann mir nur schwach vorstellen, wie es sein muss, in deinem Alter auf der Straße zu leben.« Genau genommen fühlte er sich beinahe körperlich abgestoßen von dem clownesken Aufzug des Jungen und spielte mit dem Gedanken, ihn mit nach Hause zu nehmen, ihm ein gründliches Bad und anständige Kleidung zu verordnen. Dann würde der Junge sogar ganz gut aussehen. »Aber eines sage ich dir ganz ehrlich, ich weiß sehr genau, wie es sich anfühlt, Außenseiter zu sein. Davon verstehe ich etwas. Ich weiß, wie es ist, verspottet und gefürchtet zu werden, und ...«
»Es geht um die verschwundenen Jungen.« Die geschminkten Augenlider schlossen sich flatternd. Als er sie wieder öffnete, konnte Kraus erkennen, dass der Junge beschlossen hatte, dem Gespräch eine Chance zu geben.
Kraus’ Brust schwoll an. Seine Ahnung war richtig gewesen.
»Diese Sache mit den Zigeunern ...« Der Junge runzelte die Stirn so stark, dass sich seine blonden Augenbrauen beinahe berührten, und holte tief Luft. »Das ist völliger Quatsch. Sie waren es nicht.«
Jetzt schlug Kraus’ Herz fast einen Salto. »Setz dich doch einfach hin und erzähl mir alles. Ich habe es nicht eilig. Und niemand muss davon erfahren. Pass auf, wir treffen eine Abmachung: Diese Angelegenheit bleibt strikt unter uns, einverstanden? Wie heißt du überhaupt?«
»Kai.«
»Schön, dich
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