Kindersucher
Schnee verliefen. Das war eine gewaltige Demütigung für die gesamte Berliner Polizei. KRIPO RATLOS!, titelten die Schlagzeilen. WAS IST MIT UNSERER KRIPO LOS? Und die ganze Zeit wurden Knochen am Ufer der Spree angespült, bis hinauf nach Spandau.
Auf halber Strecke über die Dircksenstraße musste Kraus auf der Verkehrsinsel warten, während eine Straßenbahn vorbeiratterte. Ein hellgelber Wagen nach dem anderen fuhr an ihm vorbei, mit Werbung: KAFFEE HAAG ... NIVEA CREME FÜR EIN WEICHERES SELBST ...
Während Kraus den Rest der Straße überquerte, tat ihm Freksa fast leid. Der Goldjunge stand unter einer ausgewachsenen Regenwolke. Vor ein paar Tagen war derselbe Kerl mit dem Klumpfuß, den er schon einmal in seinem Büro gesehen hatte, wieder bei Freksa gewesen und hatte ihn mit beinahe hysterischer Stimme hinter verschlossener Tür zusammengestaucht.
»Sie müssen etwas unternehmen, sonst muss ich Sie warnen, Freksa: Die Konsequenzen werden fürchterlich sein. Wir haben Sie in dieser Angelegenheit die ganze Zeit unterstützt, und jetzt lassen Sie uns schwächlich aussehen. Und das gerade jetzt, wo die Zeit für uns gekommen ist, zu wachsen.«
Worauf hatte sich Freksa da eingelassen?
Als Kraus das Polizeipräsidium erreichte, überflog er mit einem raschen Blick die Titelseiten der Zeitschriften am Kiosk an der Ecke und erwartete die üblichen Schlagzeilen über die Depression. Doch dann schlug ihm das Herz fast bis zum Hals. KINDERFRESSER GEFASST!
Er konnte es nicht glauben.
Oben in seinem Büro erfuhr er jedoch nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand: Angeblich hatte Freksa das Monster verhaftet. Es war eine Pressekonferenz einberufen worden, auf der die Einzelheiten enthüllt werden sollten ... aber nur ausgesuchte Journalisten würden anwesend sein. Aus Sicherheitsgründen wurde der Ort der Pressekonferenz geheim gehalten. Nur ein kleiner Kreis von Eingeladenen kannte ihn. Er war so geheim, dass selbst Kraus nichts Näheres herausbekam. Und er war eindeutig nicht eingeladen. Jeder, den er fragte, tat, als wisse er von nichts. Er musste Fritz anrufen, der wiederum seine Kontaktleute anrufen musste, um die Adresse herauszufinden.
Wie sich herausstellte, war es ein alter Fabrikkomplex, der von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun eingefasst war. Er befand sich in Lichtenberg, nur ein paar Blocks nördlich von der Stelle, wo die drei Säcke mit Knochen gefunden worden waren. Freksa stand vor der versammelten Presse, einschließlich etwa zweier Dutzend Fotografen und Kraus, von dessen Anwesenheit er sichtlich nicht begeistert war. Die ganze Abteilung war da: Müller, Meyer, Hiller und Stoss. Selbst Kommissar Horthstaler stand hinter Freksa und sah Kraus kalt an. Aber der war zu entsetzt, um sich davon irritieren zu lassen. Wie hatte das alles so schnell passieren können?
Unter einem Blitzlichtgewitter verkündete Freksa, dass er den sogenannten Kinderfresser hinter diesem Gitter auf dem Hof der Fabrik festgesetzt hatte und dass es gar nicht ein Mann war. Sondern eine ganze Bande von Männern. Eine Gruppe von Landstreichern. Zigeuner!
Zigeuner?
Sechs abtrünnige Roma hätten Jungen entführt und ihre Knochen bei grauenvollen, geheimen Ritualen benutzt.
Kraus war wie vor den Kopf gestoßen.
Auf Freksas Wink hin wurden die Journalisten in den Hof geführt, wo sie ein richtiges Zigeunerlager erwartete. Es sah aus wie eine Bühnenrequisite aus Bizets Carmen : Drei fröhlich bemalte Wohnwagen, dieselben, die man noch vor nicht allzu langer Zeit vom Trümmerfeld am Alexanderplatz vertrieben hatte, waren jetzt in einem Halbkreis auf dem gepflasterten Fabrikhof angeordnet. In der Mitte standen sechs schwarzhaarige Männer in Handschellen. Alle ließen sie die Köpfe hängen.
Auf der anderen Seite, hinter dem Zaun, klagten ihre Frauen, Kinder und andere Familienangehörigen. Ihr Jammern wurde jedoch von uniformierten Männern fast übertönt. Es waren vielleicht ein Dutzend Männer, alle mit braunen Mützen, braunen Hemden, braunen Hosen und schwarzen Stiefeln, die den Zigeunern direkt gegenüberstanden. »Rassenschande! Rassenschande!«, brüllten sie mit schrecklicher Wut und schlugen dabei ihre Trommeln. »Deutschland, erwache!« Wer sie waren oder was sie hier taten, wo doch der Ort dieser Pressekonferenz angeblich so geheim war, konnte Kraus sich nicht vorstellen. Aber sie untermalten die ganze Szenerie mit einer eisigen Bedrohung. Kraus bemerkte ihre leuchtend roten Armbinden, die dieselbe
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