Kindersucher
kennenzulernen, Kai. Ich bin Kriminalsekretär Kraus – Willi Kraus.«
Sie setzten sich auf eine Bank in der Nähe des Alten Museums, direkt vor die achtzehn dorischen Säulen. Kraus musste sich Mühe geben, die vielen erstaunten Blicke zu ignorieren, die man ihnen zuwarf, und außerdem seinem eigenen Wunsch zu widerstehen, dem Jungen den Lippenstift vom Gesicht zu wischen. Er erfuhr, dass Kai aus einem kleinen Dorf mitten auf dem Land stammte und seit seinem siebten Lebensjahr alleine lebte. Er war keinen einzigen Tag zur Schule gegangen. Was nicht bedeutete, dass er dumm war. Oder ungebildet. Seine Freunde hatten ihm alles beigebracht, was er wissen musste, Schreiben, Lesen und Rechnen.
Es verblüffte Kraus immer wieder zu sehen, wie diese Kinder überlebten.
Nirgendwo in Europa hatten Kinder es schwerer als in Deutschland. Vor allem auf dem Land, wo unbedingter Gehorsam Vater und Mutter gegenüber verlangt wurde. Kinder hatten die Bedürfnisse der Erwachsenen zu respektieren, nicht umgekehrt, und mussten sich ihr täglich Brot durch viel harte Arbeit verdienen. Wurden die Zeiten härter, wurden viele dieser Kinder einfach als überflüssiger Ballast abgeworfen, an einen Freund, einen Verwandten oder einen durchreisenden Kaufmann verschachert. Früher oder später landeten sie in jener glitzernden Stadt, die man unbedingt gesehen haben musste. Jeden Tag nahm die Zahl dieser Kinder auf den Straßen von Berlin zu. Sie drängten sich in den Bahnhöfen, vor den Hotels, den Parks. Sie taten einem entsetzlich leid, aber was konnte man schon tun? Die Regierung musste einfach umfassendere Maßnahmen einleiten.
Kraus sah sich um. Über ihnen tanzten weiße Blüten in den Lindenbäumen. Links von ihnen verdeckte die gewaltige Kuppel der Kathedrale, in deren Krypta fünf Generationen Hohenzollern zur letzten Ruhe gebettet waren, die Hälfte des Himmels. Und direkt vor ihnen drohten dunkel und verlassen die Hallen des kaiserlichen Palastes. Seit der Abdankung des Kaisers vor elf Jahren wusste niemand so recht etwas damit anzufangen. Sollte man ein Museum daraus machen oder den Palast einfach sprengen? Kraus fröstelte, als ihm Fritz’ Worte wieder einfielen, dass viele Deutsche nach dieser kurzen Zeit der Demokratie nichts lieber wollten, als dass der Kaiser wieder seinen Palast bezog.
»Also gut, Kai, jetzt erzähl mal ... Worum geht es hier eigentlich?«
Der Junge kniff seine geschminkten Augen zusammen, dann jedoch riss er sie auf. Sie glühten förmlich. »Seit fast einem Jahr verschwinden in ganz Berlin wilde Jungs, in Wedding, Pankow, Friedrichshain und Kreuzberg ... ein paar hier, ein Pärchen dort. Woche um Woche. Monat um Monat. Vor ein paar Tagen haben sich endlich die Bandenführer aus ganz Berlin zusammengesetzt. Als sie die Zahl der Verschwundenen addiert haben, sind sie auf über vierzig gekommen.«
Kraus’ Kehle zog sich so fest zusammen, dass es weh tat.
»Keiner von ihnen war älter als vierzehn. Die meisten acht oder neun.«
Mein Gott!, dachte Kraus. So alt wie Erich.
»Wir haben uns die Hacken abgelaufen, so oft sind wir bei der Polizei gewesen.« Kai verzog verbittert seine pinkfarbenen Lippen. »Vor allem bei diesem Freksa. Aber er hat immer nur gemeint, unser Anblick würde ihn krank machen. Diese Sache mit den Zigeunern, die er da aus dem Hut gezaubert hat, ist absoluter Unsinn.«
»Woher weißt du das?«
»Weil«, Kais Augen blitzten, »vier weitere Jungen verschwunden sind, seit er diese angeblichen Mörder gefangen hat.«
Kraus’ Magen brannte. »Kannst du mir ihre Namen verraten?«, erkundigte er sich und zückte sein Notizbuch. Ihm war aufgefallen, dass mittlerweile ungewöhnlich viele Menschen durch den Park spazierten.
Kai schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wo sie verschwunden sind?«
Auch das wusste der Junge nicht.
»Und niemand hat irgendetwas gesehen oder gehört, in der ganzen Zeit nicht?«
Kai zuckte hilflos mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Ich weiß nur, dass es passiert, wenn die Jungs alleine oder zu zweit sind. Sie gehen los, irgendwohin, und kehren nicht mehr zurück.«
Mittlerweile war es unmöglich geworden, den Lärm hinter ihnen zu ignorieren. Tausende von Menschen strömten plötzlich in den Lustgarten und begannen zu singen. » Wachet auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!«
Rote Fahnen schwenkend und mit Spruchbändern bewaffnet, auf denen zu lesen stand: NIEDER MIT DER BRÜNING-DIKTATUR!, marschierten endlose Reihen
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