Kindersucher
schwarze Insignie aufwiesen, die er auf Freksas Reversnadel gesehen hatte. War Freksa irgendeiner radikalen Partei beigetreten?
Jemand stieß in eine Trillerpfeife, und die Männer hörten auf zu brüllen, als Freksa vor die Reporter trat. Langsam und dramatisch deutete der Held mit ausgebreiteten Armen auf die Übeltäter.
»Denunziert von Angehörigen ihres eigenen Clans«, Freksa hob den Arm und schien sie alle mit einem mächtigen Schlag zu enthaupten, »hat jeder dieser sogenannten Menschen den Mord an den dreiundzwanzig Jungen gestanden. Unwiderlegbare Beweise, die Jutesäcke, die Hackmesser und die Art und Weise der Entsorgung, all das haben wir hier in dieser verlassenen Fabrik entdeckt, in dem Nest, in dem dieses Ungeziefer seine ruchlose Existenz fristete. Zu meinen Füßen«, Freksa streckte die Hand aus, und Kraus bemerkte zum ersten Mal den offenen Kanaldeckel, »befindet sich eine Kloake, die direkt zum Überlaufkanal Fünf führt. Er fließt unter dem Park in der Nähe der S-Bahn-Station entlang, wo die Säcke mit den Knochen aufgetaucht sind.«
Also hat er doch auf mich gehört, dachte Kraus erstaunt und fröstelte unwillkürlich.
Hatte Freksa den Fall am Ende tatsächlich aufgeklärt?
ELF
»Nicht in einer Million Jahren!«
»Glaubst du wirklich?«
»Bei seinem rechten Haken? Glaub mir: Er wird ihn zu Hackfleisch verarbeiten.«
Die Aufzugskabine war voll gepackt mit hemdsärmeligen Kriminalbeamten, die auf dem Heimweg waren und darüber spekulierten, ob Deutschlands neuer Boxchampion im Schwergewicht, Max Schmeling, eine Titelchance bei dem bevorstehenden Weltmeisterschaftskampf in New York hatte. Kraus stand hinter dem breitschultrigen Freksa und war viel zu wütend, um auf das Gerede zu achten. Jedes Mal, wenn er an diese Zigeuner dachte, hätte er diesen Schwachkopf von Freksa am liebsten ungespitzt in den Boden gerammt.
Eine Woche nach dieser alptraumhaften Pressekonferenz schämte er sich immer noch zuzugeben, dass er überhaupt die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, Freksa könnte den Fall tatsächlich gelöst haben. Er hatte, wenn auch nur für einige Minuten, ebenfalls angenommen, die Zigeuner könnten wirklich die Schuldigen sein. Doch auf dem Weg nach Hause hatte es ihn wie eine linke Gerade getroffen: Freksas Theorie mochte möglicherweise zu den Säcken passen, die in der Nähe der S-Bahn-Station an der Frankfurter Allee gefunden worden waren, südlich von der Fabrik, in der die Zigeuner ihr Lager aufgeschlagen hatten. Aber die Baustelle, zu der man Kraus gerufen hatte und wo der erste Sack hochgespült worden war, befand sich fast zehn Häuserblocks weiter nördlich, unmittelbar am Viehhof.
Und der Überlaufkanal Fünf floss nach Süden.
Dieser erste Sack, sein Sack, konnte unmöglich stromaufwärts geschwommen sein.
Jetzt konnte Kraus die Erinnerung an die tränenüberströmten Gesichter der Zigeuner, an die jammernden Frauen und kreischenden Kinder nicht mehr loswerden. In all seinen Jahren bei der Polizei hatte er sich einen solchen Machtmissbrauch nicht vorstellen können, ganz zu schweigen davon, dass er so etwas miterlebt hatte. Sicher, man hatte Freksa zweifellos unter Druck gesetzt, ebenso wie Dr. Riegler, und ihn gezwungen, den Fall so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Dafür hatte man sich auch hier wie schon bei Kleist-Rosenthaler eines probaten Mittels bedient: eines Sündenbocks.
Nur dass man diese armen Zigeuner nicht dafür bezahlte, dass sie die Schuld auf sich nahmen.
Es war entsetzlich, mitzuerleben, wie begeistert die Presse und anschließend auch die Öffentlichkeit die Schuld der Zigeuner akzeptiert hatte. Alle waren nicht nur erleichtert, dass man die Monster gefangen hatte, sondern auch, dass es keine Deutschen waren. Die Zeitungen brachten Schlagzeilen wie: ZIGEUNERPLAGE VERBREITET TERROR!
Die Zigeuner hatten eine lange und schmerzhafte Geschichte in Deutschland hinter sich. Sie wurden entweder romantisiert als bunte Gestalten in Planwagen, die musizierten und Tamburin schlagend herumtanzten, oder aber als geborene Verbrecher abgestempelt, die einen großen Bogen um jede ehrliche Arbeit machten. Jedenfalls scheute man vor ihnen zurück und verfolgte sie. Selbst heute noch, 1930, galten für Zigeuner besondere Gesetze, obwohl doch angeblich jeder vor dem Gesetz gleich war: Es war ihnen verboten, in großen Gruppen umherzustreifen, und sie mussten Arbeitsnachweise vorlegen können, wann immer die Behörden sie zu sehen verlangten.
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