Kindersucher
von Kommunisten heran, die geballten Fäuste hoch in die Luft gereckt. In Deutschland gab es die größte marxistische Bewegung außerhalb Russlands, und die Zahl ihrer Anhänger schwoll wie die der Obdachlosen jeden Monat an, seit die Wirtschaft zusammengebrochen war. Vickis Vater wetterte gegen den Tag, an dem sie jemals die Macht ergreifen sollten, und behauptete, sie würden das Land vernichten und die Juden würden mehr leiden müssen als alle anderen. Aber sehr viele Menschen, manchmal sogar Fritz, hielten es fast für unausweichlich, dass die rote Fahne irgendwann über dem Reichstag wehen würde.
Um nicht von diesem revolutionären Mob aufgesogen zu werden, mussten Kraus und Kai ihre Bank aufgeben und sich zur Kathedrale zurückziehen, in deren Schatten sie stehen blieben.
»Viel mehr habe ich auch eigentlich nicht zu sagen.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur froh, dass endlich jemand von der Polizei die Wahrheit kennt.«
Kraus fand den Burschen recht liebenswert, und unter all dem Make-up steckte seiner Meinung nach ein kluger Kopf. Aber was konnte die Zukunft ihm schon bieten?
»Wie ich dir schon gesagt habe, bin ich nicht mit diesem Fall betraut.« Kraus gab ihm seine Visitenkarte. »Aber wenn du jemals an irgendwelche Informationen kommen solltest ...«
»Danke, Herr Kriminalsekretär. Ich nehme an, Sie wissen, wo Sie mich finden können.«
Kai verzog die geschminkten Lippen zu einem Lächeln, als er ironisch mit den Schultern zuckte und seine Kreole hüpfte. »Jedenfalls gehe ich jetzt hier rein und wechsle ein paar Worten mit dem alten Mann da oben, falls man mich nicht schon an der Tür abweist. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mit mir geredet haben.« Er machte einen Schritt auf die Kathedrale zu, drehte sich dann jedoch herum. »Oh, übrigens, ich bezweifle zwar, dass Ihnen das weiterhelfen wird, aber ich habe da so Gerüchte gehört. Klingt ein bisschen verrückt, aber ein paar Jungs glauben nicht, dass ein Mann dahintersteckt. Sie behaupten, es wäre eine Frau. Beim Treffen der Anführer habe ich Gerede über eine rothaarige Frau gehört, die die Jungs in Neukölln die Hirtin nennen.«
Kraus explodierte fast der Kopf. Wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört?
Nachdem Kai verschwunden war, blieb Kraus noch einen Moment vor der Kathedrale stehen. Fast vierzig Jungen? Das kam ihm unbegreiflich vor. Wie konnte ein Mann unbemerkt so viele Kinder töten?
Oder eine Frau.
Trotz des Geschreis von tausend Kommunisten fühlte er sich plötzlich sehr allein. Und hatte das Gefühl, er bräuchte dringend jemanden, mit dem er reden konnte. Er brauchte ein wenig moralische Unterstützung. Er hasste es zwar, den Polizeivizepräsidenten zu stören, aber obwohl es schon nach achtzehn Uhr war, würde Weiß höchst wahrscheinlich noch an seinem Schreibtisch sitzen.
Er fuhr im Präsidium mit dem Hauptaufzug hinauf zur Verwaltungsebene. Die Sekretärin war zwar bereits gegangen, aber er hörte eine Stimme im Büro des Doktors. Kraus steckte seinen Kopf hinein und sah Weiß, der allein am Telefon saß. Enttäuscht wollte er gerade gehen, als der Doktor hochblickte, Kraus nachdrücklich hereinwinkte und ihm bedeutete, sich hinzusetzen.
»Ja, natürlich ist mir klar, dass es nur Propaganda ist.« Weiß verdrehte die Augen, als er die Hand über die Sprechmuschel legte und Kraus lautlos zu verstehen gab, dass er mit seinem Anwalt redete. »Aber ich kann das nicht durchgehen lassen, Freytag. Ich muss mich wehren.«
Auf Weiß’ Schreibtisch bemerkte Kraus eine Zeitung mit steifen, aggressiven Buchstaben über dem Impressum:
DER ANGRIFF.
Darunter war die Zeichnung eines Esels auf einem vereisten Teich zu sehen, dessen vier Beine auf lächerliche Weise gespreizt waren. Das Gesicht des Tieres hatte eine unverwechselbare und groteske Ähnlichkeit mit dem von Dr. Weiß. Der folgende Artikel war überschrieben: »Isidor auf dünnem Eis«. Von Joseph Goebbels.
Kraus blickte hoch und sah hinter der Brille des Doktors, die so deutlich auf der Hakennase in der Zeichnung abgebildet war, Wut und Schmerz funkeln. Dieser Goebbels ging Weiß offenbar unter die Haut.
»Zweimal pro Woche, in jeder Ausgabe, benutzt er mich als Zielscheibe.« Weiß schlug die Zeitung auf, als wollte er sie seinem Anwalt zeigen. »Er hat mich schon so oft Isidor genannt, dass die Leute glauben, das wäre mein richtiger Name.«
Auf der Seite, die jetzt aufgeschlagen war, erblickte Kraus das Foto eines Mannes
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