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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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auf einem Podium, den er sofort erkannte. Diese hagere Gestalt, die sich zu dem Mikrofon beugte! Diese glühenden schwarzen Augen! Es war der Kerl aus Freksas Büro, der Humpelnde, der so laut herumschrie. Und dann dieses seltsame Zeichen auf seiner Armbinde. Es war dasselbe Emblem, das auch auf den Binden dieser braun Uniformierten gewesen war, die diese Zigeuner beschimpft hatten. Und es befand sich auch auf Freksas Anstecknadel.
    Er senkte den Kopf, um die Bildunterschrift zu lesen: Dr. Goebbels spricht zu einer Versammlung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei.
    Das also war Goebbels.
    Und die Braunhemden waren die berüchtigten Nazis, die so gerne Straßenkämpfe mit den Kommunisten vom Zaun brachen und die Juden für Deutschlands Schwierigkeiten verantwortlich machten. Jetzt fügte sich alles zusammen. Kein Wunder, dass sie auf Weiß herumhackten, einem der prominentesten Juden in Berlin.
    »Ich weiß, dass der Mann kein Narr ist.« Der Doktor wurde ganz offensichtlich wütend auf seinen Anwalt. »Er hat einen Doktortitel in Philosophie. Die Philosophie der Hölle! Aber es kümmert mich nicht, wenn ich verliere.« Er zerbrach vor Wut einen Bleistift. »Diesmal zerre ich diesen Hundesohn vor Gericht.«
    Kraus rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ganz offensichtlich war das nicht der richtige Moment, um sich hier Unterstützung zu holen.
    »Bleiben Sie«, meinte Weiß und winkte beschwichtigend mit der Hand.
    Aber Kraus flüsterte ihm zu, er wäre nur vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen, und würde ihn ein anderes Mal besuchen, wenn der Herr Vizepräsident weniger beschäftigt war.
    Auf der Straße wurde Kraus klar, wie deprimierend die ganze Situation war. Freksa hatte nicht nur sechs unschuldigen Männern etwas angehängt, sondern er gehörte zu einer rassistischen, reaktionären Bewegung, die plante, die Berliner Polizei zu unterminieren und die Republik zu stürzen.
    Alles war im Verfall begriffen. Vor ihnen lag Dunkelheit. Kraus wusste nicht genau, was er tun sollte. Aber er musste einfach irgendetwas unternehmen. Er stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus und hatte plötzlich das Gefühl, als hätte sich die Bürde von Deutschland und ganz Europa auf seine Schultern gelegt. Im selben Moment flammten die Straßenlaternen auf und tauchten den Alex in ihren Schein. Blitzartig fiel ihm plötzlich wieder ein, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Die Hirtin.
    Braunschweig.
    Kraus hatte das Mysterium dieses »Liebeskultes« nicht lösen können, und der Geistliche hatte ihn dabei ebenfalls indirekt zumindest behindert. Denn er hatte ihm nie Zugang zu den Saturnalien verschafft, wie er es versprochen hatte, und schien jedes Mal, wenn Kraus mit ihm sprach, noch betrunkener zu sein. Also hatte er diese Spur letztlich aufgegeben und sich stattdessen auf den Markt der freien Händler konzentriert. Jetzt hielt er ein Taxi an und befahl dem Fahrer, sich zu beeilen.
    Die kleine Kapelle an der Spandauer Straße war zwar dunkel, aber in der rückwärtigen Wohnung brannte Licht. Als Kraus an die Tür klopfte, hörte er ein Stöhnen. »Herr Pastor?«
    Das Stöhnen wurde lauter.
    Kraus stellte sich auf einen Vorsprung und spähte durch ein schmutziges Fenster. Braunschweig lag rücklings auf dem Boden, die Arme über dem Kopf und die Hose bis zu den Kniekehlen hinuntergezogen. Mein Gott, er war noch betrunkener als sonst. Kraus rief seinen Namen. Diesmal zog Braunschweig die Hose hoch, brach dann jedoch regungslos zusammen. Nach vielem Klopfen und Rufen zuckte der Pfarrer erneut, rappelte sich hoch auf die Knie, schaffte es jedoch nicht, aufzustehen.
    Kraus hätte am liebsten die Tür eingetreten. Irgendwie musste er zu diesem Kerl vordringen. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, das Fenster aufzubrechen, als Braunschweig sich wundersamerweise erhob, zur Tür ging und sie öffnete. Er bat Kraus herein, als wäre nichts geschehen. »Hallo, Herr Kriminalsekretär!«, begrüßte er ihn fröhlich, hob seine buschigen grauen Augenbrauen und sackte dann einfach seitwärts weg.
    Seine Gliedmaßen waren wie Gummi. Er konnte nicht einmal sitzen. Selbst seine Finger waren zu schlaff, um irgendetwas festzuhalten. Jedes Mal, wenn Kraus ihn auf einen Stuhl wuchtete, rutschte Braunschweig wieder auf den Boden. Schließlich hockte sich Kraus einfach neben ihn.
    »Hören Sie mir zu, Herr Pastor. Was wissen Sie über die Hirtin?«
    »Über wen?«
    »Brigittas Vorgängerin. Man nannte sie die Hirtin.«
    »Bleiben

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