Kindersucher
Knollennase und aufgeblähte Wangen, die von feinen Äderchen durchzogen waren. Gott allein wusste, was sie aß, um eine solche Körperfülle zu erlangen. Sie ist wirklich eine Laune der Natur, dachte Kraus. Abstoßend und zugleich mitleiderregend.
»Ich arbeite seit dem Krieg hier.« Die runden, glasigen Augen sahen ihn an, mit einem Blick, der eindringlich um Mitleid flehte. »Als die Männer an der Front waren.«
Kraus wusste, dass es in jener Zeit die Frauen gewesen waren, die Berlin über Wasser gehalten hatten. Sie hatten in den Fabriken gearbeitet, Straßenbahnen gefahren. Und auch im Viehhof geschuftet. Und sie mussten ihre Arbeit gut gemacht haben, denn in der Stadt war niemand verhungert.
»Ich wollte meine Arbeit nicht verlieren, als der Krieg zu Ende ging, also habe ich mich als Mann ausgegeben. Bitte, Herr Inspektor, ich stehe ganz alleine auf der Welt ... und ich muss mich um meine kleine Schwester kümmern. Melden Sie mich nicht.« Sie faltete die fleischigen Hände zwischen den fetten Knien, als würde sie beten.
Sie tat Kraus leid. Warum sollte man einer Frau nicht erlauben, die gleiche Arbeit zu erledigen wie ein Mann, wenn sie dazu in der Lage war? Er notierte sich ihren Namen, ihre Arbeitsstelle und ließ sich auch ihre Sozialversicherungsnummer geben, nur um so zu tun, als wäre er wirklich offiziell hier. Aber er erklärte, sie solle sich keine Sorgen machen. Solange sie ordentlich registriert wäre, versicherte er ihr, wäre ihr Geheimnis bei ihm sicher. Als er jedoch am nächsten Tag die Personalregister der Reiniger-Gelatine-Werke durchsah, wo sie angeblich arbeitete, konnte er den Namen, den sie angegeben hatte, nirgendwo finden. Und ihre Versicherungsnummer war ebenfalls falsch.
Auf der gigantischen Treppe, auf der man wie bei einem Erdbeben hin und her geschleudert wurde, wenn man sie herunterging, mussten die Jungs so lachen, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Kraus wurde an sein Leben in den letzten Monaten erinnert: Jeder Schritt musste neu ausbalanciert werden.
Freksas Tod hatte ganz Berlin erschüttert, und man erwartete von seinem Nachfolger, dass er in die Fußstapfen des besten Schnüfflers der Kripo trat. Über Nacht wurde Kraus zu einer kleinen Berühmtheit. Die Presse verfolgte ihn. Der Bürgermeister von Berlin hatte ihm seine Aufwartung gemacht. Er hatte noch nie so viel Aufmerksamkeit erfahren, war noch nie mit so vielen Erwartungen konfrontiert worden. Andererseits hatte er jedoch endlich auch Zugang zu bestimmten grundlegende Dingen bekommen. Zum Beispiel hatte er jetzt einen Partner.
Ein paar Tage, nachdem er ihm den Kindermörder - Fall übertragen hatte, war Kommissar Horthstaler mit Kraus’ neuem Assistenten hereinmarschiert, Gunther. Eine Giraffe von einem Jüngling, dreiundzwanzig Jahre alt. Er lief Kraus schon bald wie ein Entenküken hinterher. Gunther war ein Junge vom Lande, der Berlin noch nie gesehen hatte, bis er auf die Polizeiakademie ging, und es war beinahe unmöglich, ihn nicht zu mögen. Manchmal wirkte Gunther allerdings auch ziemlich lächerlich. Zum Beispiel, als sie nach draußen gingen und sich sein absonderlich langer Hals in alle Richtungen gleichzeitig zu drehen schien, weil ihn die Gebäude, der Verkehr und alles andere faszinierten. Vor allem die Mädchen. Er stolperte schon über seine großen Füße, wenn er eins auch nur ansah.
Bei der Arbeit jedoch war Gunther geschickt und eifrig. Sein Enthusiasmus kannte keine Grenzen. Kraus musste ihn praktisch auffordern, mit dem Grinsen aufzuhören. Weshalb nach der Hälfte der ersten Woche die mürrische Miene auf dem langen Gesicht unmöglich zu übersehen war. Es war nach dem Mittagessen. Als Kraus ihn nach dem Grund für seine schlechte Laune fragte, antwortete Gunther mit entwaffnender Ehrlichkeit.
»Stimmt es, Herr Kriminalsekretär, dass Sie ein ... ein Jude sind?«
Noch 1930 bestand Deutschlands ländliche Bevölkerung zum größten Teil aus Bauern, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig waren. Gunther war noch nie mit einem Juden in einem Raum gewesen, ganz zu schweigen davon, dass er einen kennengelernt hätte. Aber natürlich wusste er einiges über sie. Die Juden hatten nicht nur Gottes Sohn getötet, sondern waren auch zu überheblich, um selbst jetzt, nach all den Jahrhunderten, an ihn zu glauben. Es waren faule, skrupellose Schwindler, Diebe und Perverse. Sie hatten die russische Revolution und die große Depression verursacht. Und sie hatten sich im Krieg
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