Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
Dame sehen, aber das untersagte Kraus. Er würde nicht zulassen, dass sie irgendeine unglückliche Frau angafften.
    Da die freien Fleischhändler sich jetzt auf viele verschiedene Märkte verteilten, hatte er seine Taktik geändert und konzentrierte seine Beobachtung nun direkt auf den Viehhof, vor allem auf das Areal, wo es von Gerbern und Knochensiedern nur so wimmelte.
    Dort hatte er eine ziemlich seltsame Begegnung gehabt.
    Nach etwa einer Woche angestrengten Brütens über Karten und Zulassungspapieren hatte er einen Haufen Einsichten in eine Welt gewonnen, von deren Existenz er kaum etwas geahnt hatte. Gekleidet in den langen weißen Kittel eines Viehhof-Inspektors war er in der Lage, tagelang überall herumzuschnüffeln, konnte mit Leuten reden und erfuhr, wie ihre Betriebe funktionierten. Ein Geflecht aus miteinander verbundenen Gassen beherbergte Dutzende von verschiedenen Firmen, von denen die größten, die Salzereien, ganze Häuserblocks in Beschlag nahmen. Er hatte etliche dieser riesigen Fabriken inspiziert, die teilweise Hunderte von Arbeitern beschäftigten. Lastwagen um Lastwagen mit frischen Kuhhäuten wurden jeden Tag aus den Schlachthäusern angeliefert. Sie wurden in riesigen Fässern eingeweicht, die Fleischreste wurden von Hand abgeschabt, dann wurden sie in großen Trommeln gewälzt und zum Trocknen aufgespannt. Schließlich wurden sie zwischen gigantische Mangeln geschoben, gepresst, gefaltet und dann ausgeliefert. Aus dem Leder machte man alles Mögliche, von Uhrarmbändern bis hin zu Polstermöbeln.
    Nicht ganz so groß, aber erheblich übelriechender, waren die Talgschmelzen, die Tierfett zu Kerzentalg verarbeiteten. Fässer mit dem stinkenden Fett wurden nach jeder größeren Schlachtaktion angeliefert und zu Kerzen, Seifen, Rasiercremes und Lippenstiften weiterverarbeitet. Die Gelatinefabriken machten etwas ganz Ähnliches; hier wurden Häute, Sehnen, Bänder und Hufe gekocht, und diese Flüssigkeit fand sich in so ziemlich allem wieder, angefangen von Nahrungsmitteln bis hin zu Shampoos. Hörner, Federn, Federkiele, Borsten. Nichts wurde verschwendet. Es gab sogar Firmen, die für die Kosmetikindustrie Öle aus der Plazenta von Kühen herstellten. Etliche Darmschleimereien verarbeiteten Tierdärme zu dünnen, zähen Sehnen für Musikinstrumente oder Tennisschläger oder zu Fäden für die Chirurgie. Diese Firmen interessierten Kraus besonders.
    Eines Tages nun stieß er in einer besonders stinkenden Gasse, in der einige kleine Betriebe lagen, die Gelatine und Knochen verarbeiteten, auf einen Mann in einem weißen, blutbespritzten Kittel. Kraus musste zweimal hinschauen. Der Bursche hatte eine schwarze Arbeitermütze auf dem Kopf, hockte breitbeinig auf einem Schemel und rauchte. Kraus glaubte eine Sekunde, es wäre der Ochse. Der Mann war beinahe ebenso groß und genauso furchteinflößend, aber je schärfer Kraus hinsah, desto sicherer war er, dass es sich nicht um den Ochsen handelte. Im Gegenteil, in ihm wuchs zunehmend die Überzeugung, dass es nicht einmal ein Er war. Zufällig trafen sich ihre Blicke, und Kraus sah, wie ein dunkler Schatten über das fleischige Gesicht huschte, bevor die Person sich zur Seite drehte.
    »Verdammt heiß, was?«, sagte Kraus in dem Bemühen, ein Gespräch zu beginnen.
    Die Antwort bestand aus einem unartikulierten Grunzen. Die Stimme der Person klang heiser und männlich. Auch die Gesichtszüge wirkten derb. Selbst die Hände, die von mehreren blutroten Schichten permanent bedeckt zu sein schienen, waren so dick und kräftig wie die eines Mannes. Nur fand sich nicht das geringste Härchen auf den Unterarmen. Und an der Kehle war auch kein Adamsapfel zu sehen.
    »Muss hart sein, hier zu arbeiten«, meinte Kraus. »Für eine Frau. Sie sind die Erste, die ich im Viehhof gesehen habe.«
    Ein Anflug von Furcht huschte über ihr Gesicht. Ihr Blick zuckte hin und her, als sie sich davon überzeugte, dass niemand in der Nähe war. Dann sah sie ihn unsicher an.
    »Ich will Ihnen nichts Böses«, beruhigte Kraus sie.
    Sie kam eindeutig nicht aus Berlin, das hörte er, als sie schließlich antwortete. Ihr Akzent war so stark, dass er sie kaum verstehen konnte. Sie musste irgendwo aus der Provinz kommen. Aber Kraus konnte die Furcht nicht übersehen, die in ihren Augen brannte. Sie war ganz eindeutig nicht die Hirtin; Helga, die Hohepriesterin, hatte ihre ehemalige Gespielin als schlank und attraktiv beschrieben. Diese Frau hingegen hatte eine dicke, rote

Weitere Kostenlose Bücher