Kindheitsmuster
sei, ob der Vater von der Front geschrieben habe, wie es – bei Mädchen, die auswärts wohnten – mit Zimmer und Wirtin bestellt sei. Man konnte sehen: Die Frechsten, die sich heimlich über sie lustig machten, waren zahm, wenn sie sie entließ. Wenn man nicht mitlief, sondern sich mit dem Rücken an die rote Backsteinwand der Turnhalle lehnte (an jene Stelle, vor der jetzt eine Bank steht, auf der an dem Sonnabendnachmittag, als du nach so vielen Jahren den Schulhof betratest, ein untersetzter Mann in blauem Arbeitshemd saß und sich ausruhte: der Hausmeister des pädagogischen Instituts) – wenn man nicht mitlief, konnte man erkennen, daß einzelne Schülerinnen oder ganze Gruppen von ihnen die Bahnen, die sie auf dem Schulhof zogen, auf Julias Bahnen abstimmten, so daß sie sich an bestimmten Punkten kreuzen oder zeitweilig parallel miteinander laufen mußten. Oder daß sie einander nicht berührten. Nelly wollte nicht eine von vielen sein, die niemals einer Anrede gewürdigt wurden. Deshalb blieb sie stehen und durfte erleben, daß Julia, als zur Stunde geklingelt wurde und der Schulhof sich leerte, an der Schultür Posten bezog, sie, Nelly, die als eine der letzten hineinging, abpaßte; daß sie sie leicht um den Oberarm faßte, während sie mit ihr gemeinsam die zehn Steinstufen bis zum Parterre des Schulhauses hinaufstieg, sogar vor der Tür der Bibliothek stehenblieb, um mit ihr über das Versagen der Klasse beim letzten Aufsatzthema zu sprechen.
Nicht daß Nelly versagt hätte: das war beim Deutschaufsatz nicht zu erwarten, Julia verlor kein Wort darüber. Wie kam es aber, daß viele über »Volk ohneRaum« und »Nordischer Geist in antiker Dichtung« flüssig schreiben konnten, ein so einfaches Thema wie »Der erste Schnee« aber ganz und gar nicht bewältigten? Nelly wußte es nicht, und was sie vermutete, hätte sie nicht ausdrücken können: daß es um vieles schwieriger ist, über sich selbst zu schreiben als über allgemeine Ideen, die einem geläufig sind. Sie erinnerte sich genau: Als sie einen Sonntag beschrieb, an dem dieses Jahr der erste Schnee gefallen war, hatte sie keine Sekunde aus den Augen verloren, für wen sie diese Beschreibung anfertigte. Über jeder Zeile lag ein Hauch von Unwahrhaftigkeit, sie hatte ihre Familie eine Spur zu idyllisch, sich selbst um mehr als eine Spur zu brav geschildert: Genau so, wie sie glaubte, daß Julia sie zu sehen wünschte. (Die Heuchelei und daß sie ihr schwach bewußt blieb, ebenso wie die Sehnsucht nach Aufrichtigkeit: Vielleicht war das eine Art von Rettung? Ein Rest von Eigenleben, an den sie später anknüpfen konnte?)
Um Julia zu gewinnen – oder zu täuschen, das schien dasselbe zu sein –, hatte sie sich aller plumpen Manöver zu enthalten und die anspruchsvolle Lehrerin, der nicht leicht zu schmeicheln war, mit einem Gespinst feinster Art zu umgarnen: Blicke, Gesten, Worte, Zeilen, die haarscharf neben den aufrichtigen Empfindungen lagen, doch niemals ganz mit ihnen zusammenfielen.
Daher kam es wohl, daß Nelly nach den Augenblicken höchsten Erhobenseins – nachdem Julia ihr verabschiedend die Hand auf die Schulter gelegt und in ihrer berühmten Art und Weise zugenickt hatte –, daß sie schon, wenn sie dann die Treppe zu ihrem Klassenraum hinaufstieg, in sich zusammenfiel und eine Traurigkeit sie überkam, die sie fürchtete und vor sich selbst nichtwahrhaben wollte. Es durfte nicht sein, daß die höchsten Glücksmomente, auf die sie doch hinlebte, jedesmal in Leere endeten – um nicht Enttäuschung zu sagen: ein Wort, das sie nicht dachte. Sie ließ sich in ihre Bank fallen, sie zeigte kein Interesse an den englischen Exercises von Miß Woyßmann, es war ihr egal, welche Zensur die ihr für ihre Übersetzung einschrieb, sie rückte mit ihrer Freundin Hella über einem Blatt Papier zusammen und spielte »Misthaufen«.
Um diese Zeit fiel es Charlotte Jordan auf, daß ihre Tochter sich die Nagelbetthaut um ihre Fingernägel in kleinen Fetzen von den Händen abriß, was sie ihr natürlich – allerdings erfolglos – verbot.
Den eigentlichen Schulhof hast du gar nicht betreten. Du bist nicht weiter gegangen als bis zu der Hausecke, dann hast du den Hausmeister sitzen sehen. In den Ferien betritt man die Schulhöfe nicht. Es sei denn, es wäre Krieg und man hätte als Schülerin einer höheren Klasse eine Woche lang Luftschutzwache, man schliefe zu viert in einem mit Feldbetten ausgestatteten Klassenraum, koche sich seine Mahlzeiten
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