Kindheitsmuster
außerordentlichsten Abenteuer ihrer Schulzeit. »Was gibt’s bei den Asen? / Was gibt’s bei den Alben? / Niesenheim rast. / Beim Rat sind die Götter.« – Von den dunklen Strophen der Edda über die nordischen Heldensagen, deren Lichtgestalten blutrünstig, doch niemals von niedrigen Motiven geleitet waren, bis hin zu jenem düster-tragischen Recken Hagen von Tronje, dem Treuesten der Treuen, der sein Schwert in das Blut der Feinde seines Herrn taucht; der trotzige Hagen, der die Reue nicht kennt und aus dessen Sterbelied Julia auswendig zitieren kann: »So sei’n verflucht die Weiber! / Weib ist, was falsch und schlecht; / Hie um zwei weiße Leiber, / Verdirbt Burgunds Geschlecht! / Und käm’, der Welt Entzücken, / Ein zweiter Siegfried her / Ich stieß ihm in den Rücken / Zum zweitenmal den Speer.«
Nelly, die endlich, am Ende dieser Stunde, von Julia voll angeblickt wurde, verbarg, was sie begriffen hatte: Julia haßte es, eine Frau zu sein. Nelly, das mußte sie sich schließlich zugeben, war auch davon weit entfernt.
Am Ende einer Gedankenkette, deren einzelne Glieder aufzuzählen zu weit führen würde, siehst du ein Bild: Nelly im sogenannten Herrenzimmer, am Fußende der Couch, in die verbotene Zeitung vertieft, das »Schwarze Korps«, in der sie nachmittags gegen vier lesen konnte, ohne Gefahr zu laufen, dabei ertappt zu werden. Sie liest dort – es scheint Herbst zu sein – einen Bericht über jene »Lebensborn« benannten Einrichtungen (deren eine Filiale übrigens, wie du viele Jahre später erfuhrst, im ehemaligen Haus Thomas Manns in München etabliert worden war): Häuser, in denen blonde, großgewachsene, blauäugige SS-Männer mit ebensolchen Bräuten zum Zwecke der Zeugung eines reinrassigen Kindes zusammengeführt wurden, welches dann, wie das »Schwarze Korps« rühmend hervorhob, von seiner Mutter dem Führer zum Geschenk gemacht wurde. (Keine Rede davon, daß dieselbe Organisation Kinderraub im großen Stil in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern betrieb.) Der Schreiber des Berichts, das hat sich dir eingeprägt, setzte sich in teils scharfem, teils höhnischem Ton mit jenen überlebten Vorurteilen auseinander, die an einer derartigen, idealistischer deutscher Männer und Frauen würdigen Handlungsweise Anstoß nahmen.
Wahrheitsgemäß soll gesagt sein, daß Nelly, als sie den Artikel gelesen hatte, das Blatt sinken ließ und deutlich dachte: Das nicht.
Es war eine jener seltenen, kostbaren und unerklärlichen Gelegenheiten, bei denen Nelly sich in bewußtem Widerspruch zu den geforderten Überzeugungen sah, die sie doch gerne geteilt hätte. Das schlechte Gewissen, wie so oft, prägte ihr den Augenblick ein. Wiesollte sie ahnen, daß das Ertragen eines schlechten Gewissens unter den waltenden Verhältnissen eine notwendige Bedingung zur inneren Freiheit war? Ein Mädchen von dreizehn Jahren, saß sie da, eingeklemmt zwischen der Mahnung der Mutter, sich nicht »wegzuwerfen«, und der Weisung des »Schwarzen Korps« zur unbedingten Hingabe für den Führer. Alles, was mit ihrem Geschlecht zu tun hatte, war über jedes erträgliche Maß hinaus kompliziert. Sie hatte ein Buch gelesen, in dem ein Mädchen des Dreißigjährigen Krieges, Christine Torstenson, sich absichtlich im eigenen Lager mit der Pest infiziert, um dann ins Lager der Feinde zu gehen und, indem sie sich »hingab«, ihnen die Seuche zu bringen. Das nicht! hatte Nelly am Ende gedacht, begeistert und beklommen. Sie lief in die Küche, um sich aus Haferflocken, Zucker, Milch und Kakao einen süßen Brei zu rühren, den sie in sich hineinschlang, während sie blicklos, die Zeitung auf den Knien, aus dem Fenster sah.
Auf dem Schulhof (den du am 10. Juli 71 betreten hast, indem du rechts an der Schule, dem roten Backsteinbau, vorbei durch die schmiedeeiserne Pforte gingst, die immer noch nur angelehnt ist) – auf dem Schulhof ist Julia, wenn sie Pausenaufsicht hatte, mit ihren langen Schritten, die Hände auf dem Rücken, eine vorgezeichnete Bahn abgegangen, in ihren flachen Schuhen mit schiefgetretenen Absätzen, den Strümpfen, die bis hoch in die Wade hinauf gestopft waren. Ihr aufmerksamer Blick war überall. Streitfälle gab es in ihren Pausen nicht, sie hatte auch niemanden zu ermahnen wegen verbotenen Ballspielens, Schneeballwerfens, ungebührlichen Betragens. Manchmal winkte sie eine Schülerinzu sich heran, um ihr Fragen über ihr Privatleben zu stellen: Ob die Mutter aus dem Krankenhaus zurück
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