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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Aufnahme von Flüchtlingenaus dem Osten hergerichtet waren, bei deren Betreuung Dr. Juliane Strauch als NS-Frauenschaftsleiterin eine bedeutende Rolle spielte, während Nelly zu Hilfeleistungen angehalten war, die zu ihrer Zeit beschrieben werden sollen.)
    Der Winter von 44 auf 45 war von Anfang an kalt, und er konnte nirgends kälter sein als in den bleichen, kahlen Straßen in der Gegend des Schlageterplatzes, durch die zwischen zwei schnurgerade ausgerichteten Häuserzeilen ungehindert der Wind fuhr. Nelly fror in ihrem Konfirmationsmantel, während sie vor Julias Haus hin und her ging und die Minuten abzählte, bis es vier schlug. Sie war sich selber dafür böse, daß sie in trostloser Stimmung war. Doch sie kannte sich: Kurz vor der Erfüllung eines lange und stark gehegten Wunsches brach ihre Vorfreude in sich zusammen – ein Charakterfehler, der sie zwang, ihre Verstellungskünste stark zu entwickeln und zu verfeinern.
    Nelly war befangen, als sie an Julias Wohnungstür klingelte, und in dem Augenblick, da die näher kommenden Schritte hinter der Tür verhielten und Julia gewiß die Hand ausstreckte, um zu öffnen – in diesem Augenblick sprang glücklicherweise die alte Aufregung in Nelly wieder hoch, angestachelt durch ein einfaches Mittel: durch die Erinnerung an die glühenden Phantasien, in denen Nelly sich den Verlauf einer Einladung bei Julia ausgemalt hatte. Denn daß man zu Julia nicht uneingeladen ging, verstand sich von selbst.
    Natürlich kam es ihr nicht in den Sinn, Nelly durch irgendeine entschuldigende Bemerkung über die trockenen Haferflockenplätzchen, den dünnen Tee oder das sehr mäßig geheizte Zimmer in Verlegenheit zu bringen.Julia war imstande, in jeder Situation Gelassenheit auszustrahlen, die sie unantastbar und nicht nur überlegen – das Wort wäre zu schwach –, sondern erhaben machte. Es kostete sie nichts, den unvermeidlichen Lachanfällen ihrer vierzehn-, fünfzehnjährigen Schülerinnen mit der scheinbar heiteren Frage zu begegnen: Ich wüßte nicht, was es außer mir hier zu belachen gäbe.
    Ihre stärkste Leistung muß die beträchtliche, aber geheimgehaltene Mühe gewesen sein, die es sie gekostet haben mag, den weiten Abstand zu überbrücken, der sie als Erscheinung von dem Ideal einer deutschen Frau trennte, das zu verkünden sie nicht müde wurde. Nicht nur war sie klein, schwarzhaarig und hatte einen ausgeprägt slawischen, in den Biologiebüchern »flach« genannten Gesichtsschnitt; darüber hinaus war sie die einzige intellektuelle Frau, die Nelly in ihrer Jugend gekannt hat (wenn man von Frau Studienrat Lehmann, der Frau eines wahrscheinlich jüdischen Mannes, absah); vor allem aber: Sie hatte es nicht für nötig befunden, zu heiraten und dem deutschen Volke Kinder zu schenken. Allerdings setzte sie durch, daß man sie mit »Frau Doktor« anredete, nicht mit »Fräulein«: Der Ehrentitel »Frau« käme einer jeden weiblichen Person von einem gewissen Alter an zu. Im Geschichtsunterricht ließ sie gelegentlich die Bemerkung fallen, die Geschichte Europas – deren Ergebnis leider Gottes eine heillose Vermischung edelsten mit minderwertigem Blute sei – habe zur Folge, daß man in Menschen, deren Äußeres das nicht vermuten lassen würde, rein germanisches Denken und Fühlen, kurz: eine germanische Seele antreffe.
    Derartige Sätze, die du zögernd niederschreibst, weilsie leicht erfunden wirken könnten, gingen Julia ganz natürlich über die Lippen. Selbstverständlich sprach sie auch in einer Unterhaltung zu zweit darüber, daß Deutschland jetzt alle seine Kräfte anspannen müsse, auch die seiner Jugend, um die Entscheidungsschlacht gegen seine Feinde zu gewinnen. In ihrer Klasse aber – eben darüber hatte sie ja mit Nelly reden wollen – beobachtete sie in letzter Zeit Anzeichen von Zügellosigkeit, von Verstößen gegen die elementaren Regeln der Disziplin, Grüppchenbildung.
    Nelly mußte Julia zustimmen, vorbehaltlos, in allen Punkten, wie sie ihr immer zugestimmt hatte. Aber soll man mit dem blassen Wort »Zustimmung« bezeichnen, was doch viel eher ein Bündnis war, ein Einverständnis von Grund her, dabei allerdings doch auch, soweit es Nelly betraf, eine Art von Gefangenschaft? Nelly lernte die Liebe zuerst als Gefangenschaft kennen.
    Nach dem Unterricht stand sie vor der Schule. Böhmstraße. Wie du es angekündigt hattest, fandest du sie mühelos, wenn auch die Zufahrtsstraße vom Warthe-Ufer aus, quer durch den Stadtkern, radikal

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