Kindheitsmuster
Jahr, von dem Julia sprach, habe es da mehrfach Grund zu Beanstandungen gegeben. Nicht gerade in ihren Stunden, aber das wäre ja auch noch schöner. Beide lachten. Aber Fräulein März zum Beispiel beklagte sich ernsthaft über ihr mangelndes Interesse an Mathematik, das sie offen zeige. Ach, die März? gab Nelly durch einen Blick zu verstehen. Jedermann an der Schule begriff, daß sie die einzige ernst zu nehmende Rivalin von Julia war, ein kühler naturwissenschaftlicher Typ, Herrenschnitt, Brille, unbestechlich. Nelly fürchtete sie. Ihr Blick wurde akzeptiert und maßvoll erwidert. – Studienrat Gaßmann sei erschüttert gewesen, daß sie sich die Freiheit genommen habe, in seiner Stunde zu essen. Ach, Studienrat Gaßmann! Wenn der den Rücken dreht, war doch in der Klasse sowieso der Teufel los. – Julia wußte Bescheid und ließ den Punkt fallen. Gutgut, reden wir vom Wesentlichen: Julia wollte, daß sie über ihr Verhältnis zu ihrer Freundin Hella nachdachte und daß sie Schlußfolgerungen aus diesem Nachdenken zog.
Julia hatte, wie immer, den Finger auf den wunden Punkt gelegt. Für Nelly, fünfzehnjährig, stand im Vordergrundnicht die Sorge um den Ausgang des Krieges – daß Deutschland ihn verlor, war ja außerhalb des Menschenmöglichen –, sondern die Sorge um den Verlust der Freundin. Hella neigte zur Treulosigkeit. Gerade jetzt hatte sie sich einem Mädchen namens Isa zugewandt, die nach Julias Worten »wenig Geist, dafür überreichlich andere Vorzüge« aufwies, und sie zwang Nelly, wenn sie sie nicht verlieren wollte, zu Zugeständnissen, die ihr gegen den Strich gingen. Julia brauchte wirklich keine Einzelheiten anzuführen. Nelly verstand schon: Spuren von Unbotmäßigkeit. Flüchtig dachte sie, daß Julia übersehen hatte, von welcher Seite ihr die wirkliche Gefahr drohte – nicht von Hella und Isa mit ihrem Hang zu frechen Streichen, mit ihrer Zettelwirtschaft in den Stunden und ihren Geheimkonferenzen in den Pausen, die immer um ein paar Jungennamen kreisten: sondern von Christa T., der Neuen aus der Friedeberger Gegend, die nichts von sich hermachte und die Julia nicht nötig hatte und der Nelly gerade zu Beginn der Weihnachtsferien ein halbes Versprechen abgebettelt hatte, daß sie ihr schreiben werde.
Darüber zu Julia kein Wort. Statt dessen verständig sich zeigen wie immer, und doch, wenn auch absichtslos, mit einem Anflug von Distanz. Der reichte aus, um aus Julia jenen Satz herauszuholen, auf den Nelly so lange vergeblich hatte warten müssen: Wir beiden wissen ja, was wir aneinander haben, nicht wahr?
Der Satz kam zu spät, zweifellos, und er hatte seine Wunderwirkung beinahe schon eingebüßt. Nelly hätte es sich nicht zugegeben, aber es kam der Verdacht in ihr auf, Julia könnte berechnend sein.
(Merkwürdigerweise sollen Julias letzte Worte, ehesie auf einem Transport nach Sibirien an Typhus verstarb, gelautet haben: Wie Gott will. Dies ist verwunderlich, weil sie niemals Spuren religiösen Empfindens zeigte, solange Nelly sie kannte. Übrigens soll sie sich auf diesem Transport vorbildlich, das heißt hilfsbereit bis zum Opfermut, verhalten haben: eine Mitteilung, die wenigstens teilweise eine Frage beantwortete, die Nelly sich nach dem Krieg öfter stellte, nämlich, ob auch ein sogenannter »ehrlicher Idealismus« Julias Auftreten mit bestimmt hatte; ob sie sich sofort verleugnen würde, wie fast alle, die Nelly damals sah, oder ob sie sich »treu blieb«, was immer das heißen mochte.)
Dann wieder die Straße, durch die der Wind fegte. Es war stockdunkel geworden. Der Besuch bei Julia hatte nicht ganz gehalten, was Nelly sich von ihm versprochen hatte – das Übliche. So sprach ein Teil von Nelly zu dem anderen Teil, denn es war ihr zur Gewohnheit geworden, sich selbst laufen und reden und handeln zu sehen, was bedeutete, daß sie sich andauernd beurteilen mußte. Es hinderte sie oft daran, von der Leber weg zu reden oder durchzugreifen, wo es nötig gewesen wäre. Einmal traf sie auf der Ludendorffstraße ein Mädchen aus ihrer Jungmädelschaft, die fast nie zum Dienst erschien und daher von ihr, Nelly, einen brieflichen Verweis erhalten hatte. Dafür ließ sie sich nun auf offener Straße von der Mutter herunterputzen, die ihr deutlich sagte, ein so junges Ding wie sie habe ihrer Tochter nichts zu befehlen. Und Nelly, anstatt ihr Recht geltend zu machen, stimmte der Mutter eilig zu, weil derjenige Teil von ihr, der nicht auf der Straße stand, sondern von oben
Weitere Kostenlose Bücher