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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verändert, was heißt: modernisiert worden ist. Begradigt, verbreitert. Es war die dritte Nachmittagsstunde. Das Stück Straße vor der Schule lag zum Glück im Schatten der gegenüberstehenden Häuser. Die Bäume (du hättest geschworen: Rotdorn; aber auf den Fotos wurden es dann unter der Lupe Linden, die allerdings frisch, das heißt vor etwa zwanzig Jahren gepflanzt sein konnten) vertieften den Schatten. Dem Schild neben der Eingangstür konntet ihr entnehmen, daß die Schule heute eine pädagogische Lehranstalt ist.
    Julia pflegte, anders als die meisten Lehrkräfte, denAusgang zu benutzen, der den Schülerinnen der niedrigen Klassen vorbehalten war. Sie hielt sich meist in ihrer Bibliothek, nicht im Lehrerzimmer auf und wahrte eine Distanz zu den anderen Lehrkräften der Schule, deren Achtung sie sicherlich, deren Zuneigung sie kaum besaß. Menschen, die nicht verbergen können, daß sie sich für vollkommener halten als andere, werden nicht geliebt. Nelly dagegen – wie alle vernichtet durch den unüberbrückbaren Abgrund zwischen Julias Vollkommenheit und der eigenen Fehlbarkeit –, Nelly stand vor der Schule (angeblich auf eine Freundin wartend, die Mappe auf das niedrige Mäuerchen gesetzt, das die Rasenfläche einfaßt), damit ein Blick von Julia, ein Gruß von ihr sie vor anderen auszeichnete und vor sich selbst erhob.
    Hingabe war eines von Julias Lieblingswörtern. Nelly fühlte sich in der Lage, Julias Anforderungen wenigstens in diesem Punkte zu erfüllen. Unter den Frauen, die sie kannte, führte keine ein Leben, das sie sich für sich selber wünschen oder auch nur vorstellen konnte: außer Julia. (Julia! Julia! sagte Charlotte. Wenn Julia zu dir sagt: Spring aus dem Fenster, dann springst du, ja?) Nelly lauschte auf die Geräusche, die aus Julias Küche kamen, als wirtschafte dort jemand herum. Sollte es wahr sein, daß eine ältere Schwester ihr die Wirtschaft führte? Julia machte keine Anstalten, die Geräusche zu erklären.
    Die Frage war nicht, ob sie mehr von Nelly erwartete als von anderen: Das verstand sich von selbst, da Nelly keine Mühe hatte, im deutschen Aufsatz oder im Geschichtsvortrag zu glänzen, wofür Julia sie strenger zensierte als andere, was ganz in der Ordnung war. Eherschon konnten kleine Sonderaufträge als Vertrauensbeweis und Auszeichnung gelten: daß sie Nelly die Vorbereitung einer Klassenfahrt übertrug oder sie darum bat, einen Jungen aus ihrem Bekanntenkreis, der fürchten mußte, die Aufnahmeprüfung für die Oberschule nicht zu bestehen, durch Nachhilfestunden auf diese Prüfung vorzubereiten.
    Einen Höhepunkt von Vertrauen stellte es natürlich dar, als Julia, verantwortlich für den Ablauf der Feier zu Führers Geburtstag in der Aula, Nelly die zentrale Gedichtrezitation übertrug: »Wenn je dem Volk / die Flut seiner Not / bis zum Munde schwillt, / greift Gott / aus dem Reichtum der Männer, / die ihm immer bereitstehn, / den Tauglichsten / mit seiner eigenen Hand, / stößt ihn / gnadenlos, wie es scheint, / in den lichtlosen Abgrund, / schlägt ihm / tödliche Wunden, / und überhäuft sein Herz / mit der bittersten Qual / all seiner Brüder.«
    Lenka sagt: Das nenn ich Gedächtnis. Ich werde kein einziges Gedicht länger als ein Jahr behalten. Eine Probe bestätigt: so ist es. Auch vom »Osterspaziergang« nur Bruchstücke. Dafür ein unzerstörbarer Vorrat von Küchenmädchenliedern und Moritaten aus der frühen Kindheit, auch Spanienlieder von den alten Platten, die man auf dem neuen Gerät nicht abspielen kann, und Morgenstern und Ringelnatz.
    (Sie liegt tagelang und hört Musik. So willst du das Jahr beschließen? fragst du. – Laß mich, sagt sie. Das letzte Jahr war nicht gut. – Du meinst deine Faulheit? – Ich meine, daß ich mich zu gewöhnen anfange. – Woran? – Daran, daß alles Pseudo ist, am Ende auch ich selbst. Pseudo-Menschen. Pseudo-Leben. Oder merkstdu das nicht? Oder bin ich vielleicht nicht normal? Oder haben vielleicht die recht, die sich darüber keine Gedanken machen? Manchmal fühle ich, wie wieder ein Stück von mir abstirbt. Und wer hat schuld daran? Bloß ich?
    Die Angst um sie, eine neue Art von Angst, springt in dir hoch. Ganz anders, denkst du, ganz anders müßte geschrieben werden.)
    Wie jeder Liebende verzehrte Nelly sich nach dem unwiderlegbaren Beweis von Gegenliebe, der nicht an Verdienste geknüpft sein darf. Gewiß: Es ist vorgekommen, daß Julia eine Stunde für sie allein hielt, und es war eines der

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