Kindheitsmuster
her den Vorfall beobachtete, ihr sagte, daß sie sich schämen solle.
Gehen wir ein paar Schritte. Lassen wir das Auto stehn. Bei der Hitze, sagt Lenka. Wo kann man denn hier mal baden?
Jedenfalls nicht hier, nicht am Hindenburgplatz, der um die Ecke liegt und sich, das hast du wohl schon gesagt, zu seinem Vorteil verändert hat durch wilden Grasbewuchs, durch die Sonnabendnachmittags-Kartenspieler auf den Bänken im Schatten der inzwischen erwachsenen Bäume, die den Platz säumen. Ein Bild, in das man hineinpassen möchte. Die Schnapsflaschen unter den Bänken. Kinder auf dem Schoß und zu Füßen der Väter. Breithüftige, großbusige junge Frauen zu viert auf einer Bank, ihre Säuglinge im Arm.
An der Südostseite des Platzes, die an die ehemalige Böhmstraße grenzt, versammelte sich damals mittwochs und sonnabends Nellys Jungmädelgruppe, »trat an«. Auch Nelly ließ ihre »Schaft« antreten, der Größe nach in Reihe zu einem Glied, ließ durchzählen, erwartete immer unruhig das Ergebnis, weil an der Vollzähligkeit ihrer Einheit die Befähigung einer Führerin gemessen wurde, kommandierte »Rechts um!« und ließ die Dreierformation bilden, um der Schar- oder Gruppenführerin, die jetzt erst auftauchte, Meldung zu machen. Danach erfolgte der Abmarsch zu den Dienstübungen. Nelly wie die anderen Führerinnen nicht in der Kolonne, sondern links außen neben ihrer Einheit. Links, links, links, zwei drei vier. Ein Lied. »Heute wollen wir’s probiern; / einen neuen Marsch marschiern, / in den schönen Westerwald, / ei da pfeift der Wind so kalt.«
Die Rücken der Kolonne. Das Straßenpflaster. Die Häuserfronten. Aber kein einziges Gesicht. Das Gedächtnisversagt auf unglaubwürdige, man muß sagen, peinliche Weise. Auch kein Name mehr, weder von Vorgesetzten noch von Untergebenen.
Diesen Tatbestand merkwürdig zu nennen, läßt die Sprache nicht zu. Merkwürdig scheinen nur Gruppenund Massenbilder gewesen zu sein: Marschierende Kolonnen. Rhythmische Massenübungen im Stadion. Volle Säle, die singen: »Heilig Vaterland / in Gefahren. / Deine Söhne sich / um dich scharen. / Von Gefahr umringt, / heilig Vaterland ...« Ein Kreis um ein Lagerfeuer. Wieder ein Lied: »Flamme empor!« Wieder keine Gesichter. – Ein riesiges Karree auf dem Marktplatz, gebildet aus Jungmädeln und Pimpfen; der Standort ist aufgeboten und angetreten, man hat auf den Führer ein Attentat verübt. Kein einziges Gesicht.
Darauf warst du nicht vorbereitet. Die Schule, die Straße, der Spielplatz liefern Gestalten und Gesichter, die du heute noch malen könntest. Wo Nelly am tiefsten beteiligt war, Hingabe einsetzte, Selbstaufgabe, sind die Einzelheiten, auf die es ankäme, gelöscht. Allmählich, muß man annehmen, und es ist auch nicht schwer zu erraten, wodurch; der Schwund muß einem tief verunsicherten Bewußtsein gelegen gekommen sein, das, wie man weiß, hinter seinem eigenen Rücken dem Gedächtnis wirksame Weisungen erteilen kann, zum Beispiel die: Nicht mehr daran denken. Weisungen, die über Jahre treulich befolgt werden. Bestimmte Erinnerungen meiden. Nicht davon reden. Wörter, Wortreihen, ganze Gedankenketten, die sie auslösen konnten, nicht aufkommen lassen. Bestimmte Fragen unter Altersgenossen nicht stellen. Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort »Auschwitz« das kleine Wort »ich«mitdenken zu müssen: »Ich« im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben.
Dann schon lieber: Keine Gesichter. Aufgabe von Teilen des Erinnerungsvermögens durch Nichtbenutzung. Und an Stelle von Beunruhigung darüber noch heute, wenn du ehrlich bist: Erleichterung. Und die Einsicht, daß die Sprache, indem sie Benennungen erzwingt, auch aussondert, filtert: im Sinne des Erwünschten. Im Sinne des Sagbaren. Im Sinne des Verfestigten. Wie zwingt man festgelegtes Verhalten zu spontanem Ausdruck?
TMÜ, sagt Lenka.
Was soll das wieder sein?
Ihr steuert auf das kleine Café an der Ecke zu, das neu ist. Drinnen ist es ziemlich leer, ein Mann sitzt am Klavier, der Kaffee kostet zehn Złoty. Ihr bekommt ihn türkisch, stark und gut, in großen Tassen. Dazu Erdbeertörtchen. Es kommen ein paar betrunkene Halbwüchsige herein. Der eine belästigt zwei Mädchen am Nachbartisch. Die Kellnerin, eine füllige, gut aussehende Frau im mittleren Alter, redet scharf und nachdrücklich auf die Jungen ein und weist ihnen die Tür. Ohne viel Widerrede torkeln sie hinaus, der eine fällt draußen
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