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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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in der Schulküche. Nach Doras Anweisungen, die als einzige von ihnen kochen konnte, hatten sie Klöße gemacht und sie da drüben, im hinteren Teil des Schulhofs, unter den unerhört gewachsenen Linden verspeist. Julia, die Leiterin der Wache, saß an der Schmalseite des einfachen Brettertisches und lobte die Klöße. Der Sommer muß heiß gewesen sein. Sie hatten sich in der Teigmenge vergriffen, der Rest der Klöße wurde nachts heimlich in der Cladow versenkt, ungeachtet des großen Plakats, das in der Küche hing: »Kampf dem Verderb!«
    Tagsüber waren die Fliegeralarme noch selten, abendssaß man im Dunkeln unter den Linden und sang, was Julia sich wünschte: »Hohe Tannen weisen die Sterne« oder »Kein schöner Land in dieser Zeit«. Julia fragte, was jede von ihnen werden wolle. Dora dachte an den Beruf der Krankenschwester, Hella würde ihres Vaters Buchhandlung übernehmen, Marga, die aus Berlin evakuiert war, wollte ihr Zeichentalent verwerten. Nelly sagte: Lehrerin. Julia nickte. Nelly hatte lange auf die Gelegenheit gewartet, Julia den Wunsch, ihr nachzueifern, zu offenbaren. Jetzt hatte sie es getan und fürchtete im gleichen Augenblick, daß Julia sie für anbiederisch halten könnte.
    Aus einem offenen Fenster des Nachbarhauses jenseits der kleinen saftiggrünen Schlucht, an deren Grund die Cladow fließt, kam Musik. Jemand ließ das Radio laufen, eine Flöte spielte, dann setzte mit schnell ansteigender Tonfolge das Klavier ein. Unvermutet griff die Melodie dir ans Herz – falls man sich so noch ausdrücken kann, wenn einem die Tränen kommen. Es schien dir unerträglich, daß du die Frau – du stelltest dir eine junge Frau vor –, die in dem Zimmer da oben die Musik hören mochte, nicht kennenlernen, ja nicht einmal sehen solltest. Du wolltest nichts anderes als dich auf die kühle grüne Cladow-Böschung hocken, die heute wie früher von Farn und Efeu ganz und gar bewachsen ist, die Augen schließen, auf die Musik hören und dabei endlich dich selbst vergessen. Denn nur, wenn man sich selbst vergißt, schließt sich für kurze Zeit der Riß zwischen dem, was zu sein man sich zwingt, und dem, was man ist.
    (Die Wächter von den Toren des Bewußtseins abziehen: Schiller, der besser als irgendeiner gewußt hat, wovoner sprach. Das große und vielschichtige Problem der Selbstzensur. Ganz anders muß geschrieben werden. Das Austrocknen, Verdorren, abgeschnitten von den sogenannten Quellen. Wenn die Sehnsucht, die Notwendigkeit, gekannt zu werden, mehr zu fürchten ist als alles. Als sei die Selbstbewachung und Selbstbespitzelung ein Exklusivleiden der berufsmäßig Schreibenden und nicht die allergewöhnlichste und allgemeinste Erfahrung der Zeitgenossen, die sie kaum noch wahrnehmen, die viele leugnen, welche für die verbreitete Apathie, die schwerlich zu leugnen ist, andere Gründe anführen.)
    Das Tagebuch, das Nelly in jenen Jahren geführt hat, wurde zum Glück oder Unglück bei Kriegsende im Kanonenofen der Gastwirtschaft des Dorfes Grünheide bei Nauen verbrannt, wo die Familie Jordan – ohne den Vater, der in sowjetischer Gefangenschaft war – nach der ersten dreiwöchigen Fluchtzeit Quartier gefunden hatte. Das kommt mir jetzt aber weg, bestimmte Charlotte Jordan – die natürlich das Tagebuch ihrer Tochter heimlich mitlas –, ehe die Familie, da die Rote Armee zu ihrer Offensive auf Berlin ansetzte, erneut auf die Landstraße ging. Mit einem Feuerhaken hob sie die drei inneren Eisenringe der Deckplatte des Öfchens an und überwachte den Feuertod des gefährlichen Heftes: Wenn der Russe das bei uns findet, sind wir erledigt, dumm und offenherzig, wie du bist! Nie hat später »der Russe« Papiere bei der Familie Jordan vermutet und gesucht, doch du hast es nicht über dich gebracht, die Vernichtung dieses unersetzlichen, aber gewiß entlarvenden Dokumentes wirklich zu bedauern.
    War schon die Rede davon, daß Julia blaue Augenhatte? Hellblaue Augen, behaupteten die einen, kornblumenblaue Augen die anderen. Diese Augen richtete sie, eindringlich, wie es ihre Art war, an jenem Januarnachmittag in ihrer Wohnung auf Nelly, als sie endlich zum Kern ihres Gespräches mit der Schülerin kam: Sie wollte ihr ins Gewissen reden. Der Ton wurde nicht tadelnd, blieb aufmunternd und verständnisvoll. Genau der Ton, der – was Julia natürlich wußte, und Nelly wußte, daß sie es wußte – einen direkten Zugang zu Nellys »Innerem« hatte.
    Ihre Freundin Hella und sie: Im vergangenen halben

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