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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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überheißen Sonnabends, als ihr durch die Richtstraße zum Hotel zurückgingt, eintauchtet in die roten, violetten, grünen Vierecke der Leuchtreklame, fing Lenka sich auf offener Straße mit ihrem Onkel Lutz zu balgen an. Du sagtest: Kalbert nicht!, und Lutz hielt inne: Sind das nicht Schnäuzchen-Omas Worte? Das war dir nicht bewußt gewesen.
    Lenka, schon jetzt größer als Nelly es je werden sollte, verglich ihre Körperhöhe heimlich mit der Größe der vorbeischlendernden jungen Männer, die sich – kaum daß sie den notdürftigsten Anstand wahrten – unverhohlen nach ihr umdrehten, worauf sie natürlich nicht zu achten schien. Das Spiel war angelaufen. Lutz machte dich mit Blicken darauf aufmerksam, du verzogst die Mundwinkel – Anerkennung und Resignation –, und H. sagte: Jetzt geht das alles noch mal von vorne los! Darüber wurde ein bißchen gelacht. Lenka beherrschte schon damals – wahrscheinlich immer schon – die Kunst des Weghörens. Sie zeigte ihr berühmtes undurchdringliches Gesicht.
    (Jetzt, drei Jahre später, in diesem wechselhaften Sommer des Jahres 1974, nachts, wenn Lenka aus der Spätschicht kommt, vor Müdigkeit erloschen. In zehn, fünfzehn Minuten, während deren sie stumm, unfähig zu reden, dasitzt, kehren Farbe und Leben in ihr Gesicht zurück. Wie sie dann, während sie langsam ein paar Erdbeeren ißt, zu sprechen anfängt, in einzelnen Sätzen, zwischen denen lange Pausen sind. Sich fragt, ob es nicht überhaupt eine Zumutung ist, daß einzelne Leute – ich zum Beispiel, sagt sie – darauf bestehen, eineArbeit zu finden, an der sie Spaß haben. Was ja Dreiviertel aller Menschen nicht können, sagt sie: alle die Leute in den Betrieben.
    Sie beschreibt, wie Angst und Wut in ihr hochkommen, wenn der Automat, der ihr pro Schicht zehntausend Widerstände zur Codierung zuführt, mit einem monotonen, gemeinen Klicken Ausschuß produziert, falsch codierte Widerständekörper – daß man so was Totes »Körper« nennt! –, auf denen die Farbringe in verkehrter Reihenfolge erscheinen oder unkenntlich ineinanderlaufen. Manchmal, sagt sie, sehe sie sich nach einem Riesenhammer um, den Automaten zu zerschlagen. Was die anderen mit ihrer Wut machen, fragt sie sich, zum Beispiel der junge intelligente Mensch, der sie ablöst, der seit zehn Jahren an diesem Automaten steht. Einer müsse die Arbeit ja machen, sagt er. Übrigens wurde sie gut bezahlt. Schichtarbeiter kriegen ihr Mittag für fünfzehn Pfennig, das ist eben Sozialismus, sagt Lenka.
    Die anderen, sagt sie, sitzen heimlich im Nebenraum am Fernseher und sehen sich die Fußballweltmeisterschaft an, egal ob sich die Automaten, wenn sie Störung haben, die Seele aus dem Leib klingeln. Dann läuft der Liebscher, ein Sehschwacher, der diese Arbeit nicht mehr lange machen kann, wie ein Verrückter zu allen Automaten und bringt sie in Ordnung. Er muß sich selber beweisen, daß er unersetzlich ist. Dafür schieben sie es auf ihn, wenn ein Posten Ausschuß zurückkommt: Das war der Liebscher, der kann doch sowieso nicht mehr richtig sehen.
    Beschissen, sagt Lenka. Findest du, daß man das mit Leuten machen kann?
    Der Liebscher freut sich drei Tage lang, wenn ich ihm zum Abschied die Hand gebe. Er hebt mir immer die Hälfte von der Flasche Milch auf, die uns der Betrieb kostenlos liefert, weil wir mit gesundheitsschädlicher Lösung arbeiten müssen, von der ich regelmäßig Kopfschmerzen kriege. Vielleicht auch wegen der Hitze: mindestens neununddreißig Grad, durch die Trockenöfen. Das macht dich fix und fertig. Die Ventilatoren sind schon lange kaputt, aber die Frauen kriegen dafür eine Zulage und bestehen nicht auf der Reparatur.
    Findest du, daß Leute das mit sich machen können? Ihr ganzes Leben lang? Jeden Tag acht Stunden?
    Dabei wäre es Unsinn, sagt sie, wenn sie selbst, bloß aus schlechtem Gewissen, dasselbe täte. Aber eine Frechheit bleibt es doch, einfach wieder wegzugehn. Dabei wisse sie jetzt schon: Sie werde in ein paar Wochen noch daran denken, aber so schlimm wie heute werde es ihr schon nicht mehr vorkommen. Alles verblaßt, sagt sie. Warum muß das so sein?
    Es gibt Sachen, die unlösbar sind. Und das muß nicht mal an dir selber liegen, oder?
    So ist es, sagst du. Antagonistische Widersprüche.
    Sie sagt: Hör auf.
    An jenem Abend in G. – früher L. – seid ihr sehr müde gewesen und um halb zehn – vollständig dunkel war es noch immer nicht – ins Bett gegangen. Lenka hat sich gleich, ohne das Buch

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