Kindheitsmuster
Menschen als abstrakte Widerspiegelung ...« Halten wir uns an die kleinen Wörter: »Nur«, nach Hermann Paul ein Adverb mit einschränkender Bedeutung, ursprünglich im Sinne von »wäre nicht, es sei denn« gebraucht. »Ideen existieren nicht, wäre es nicht (es sei denn) im Bewußtsein des Menschen.« Vorstellbar sind Zeiten, die, weniger unsicher und kaltschnäuzig und vulgär als die unseren, dafür ehrfürchtiger, in ihre Lexika schreiben: Erstaunlicher-, großartigerweise existieren im Bewußtsein des Menschen allgemeine Ideen. Sie spiegeln die Wirklichkeit abstrakt wider, können aber auch, entweder als richtige Teilergebnisse eines fortschreitenden Erkenntnisprozesses oder, im ungünstigeren Fall, als falsche Projektionen der Realität, ja als Wahngebilde, das Handeln einzelner und großer Massen von Menschen bestimmen.
Einer von Julias unumstößlichen Aussagesätzen, an dem nicht herumexperimentiert wurde, hieß: Die germanischen Stämme besiegten das Römische Reich, weil die Germanen kampfgewohnt und gestählt, die Römer dagegen in einem Schlemmerleben verweichlicht waren. In diesen Tagen erst hat der Präsident der Vereinigten Staaten, der sich hüten wird, die Anbetung des Wohlstandes durch seine Landsleute zu kritisieren, daer um seinen Präsidentenstuhl fürchtet, persönlich den Satz umgekehrt: Obwohl die Römer reich waren, wurde ihr Land eine leichte Beute der Barbaren; es mangelte ihnen an einer großen allgemeinen Idee. Er, der Präsident, sei gekommen, Amerika seine Idee zurückzugeben. Dir scheint, er glaubt das, unbeirrt durch Watergate.
Der Rest der alten Stadtmauer von G. – vormals L. – ist sorgfältig konserviert worden. Er wurde als Motiv in das Fotoheft aufgenommen, das es an allen Kiosken zu kaufen gibt.
Auf dem Foto ist im Hintergrund das ehemalige Volksbad zu sehen. Im Volksbad wurde nicht geschwommen oder gebadet, sondern es wurde mit Hilfe der Sportlehrer die allgemeine Idee der körperlichen Ertüchtigung und charakterlichen Stählung durchgesetzt. Von Nelly soll hier nicht die Rede sein, Wasser war ja ihr Element, sie holte ja beim Wettschwimmen das Letzte aus sich heraus, auch wenn sie dann nicht mehr alleine aus dem Becken kam. Die Rede soll sein von Erna und Luise, beide spitznasig, klapperdürr und maßlos ungeschickt, zu jeglicher Leibesübung untauglich, vor den Schwimmstunden aber in panischer Furcht. Sie konnten ja noch mit dreizehn, vierzehn kaum schwimmen, all die jahrelangen Anstrengungen von Fräulein Kahn waren vergebliche Liebesmüh gewesen, und sie hatte ja schließlich ihre Zeit auch nicht gestohlen. Bucki, sagte sie also, kümmer dich mal um die beiden Hungergestalten aus Indien. Bucki war die beste Schwimmerin der Klasse. Sie war Bannmeisterin im 100-Meter-Brustschwimmen, sie allein war kompakter als Erna und Luise zusammengenommen, und in diese Klasse warsie geraten, als sie mit dreizehn Jahren sitzenblieb. Bucki trat vor die beiden unglücklichen Figuren hin und sagte in ihrer rauhen Art: Also dann wolln wir mal. Bucki war Rettungsschwimmerin und zog abwechselnd Erna und Luise aus dem Becken, wenn sie am Absaufen waren. Es herrschte die Meinung, man lerne am sichersten schwimmen, wenn man ins Wasser geworfen werde, und zu Ernas und Luises Besten wäre es ja zweifellos gewesen, wenn auch sie hätten schwimmen können. Alles gut und schön, sagte Fräulein Kahn, aber man ist nun mal kein richtiger Mensch, wenn man nicht schwimmen kann.
Fräulein Kahn war beliebt, weil sie gerecht war. Sie hatte ihr dunkles Haar zur sogenannten Entwarnungsfrisur hochgekämmt und erschien auch im Lehrerzimmer nie anders als im Trainingsanzug. Gesunder Geist im gesunden Körper, sagte sie, nie was davon gehört? Na also, dann mal hopp! Am häufigsten hörte man von ihr den Satz: Man ist ja schließlich kein Unmensch! Ihr Vorname war Rosa. Sie führte alle Übungen, die sie von ihren Schülerinnen verlangte, selbst musterhaft vor. Während einer Klassenfahrt mit Rädern fuhr sie Dorle, deren Rad zusammenbrach, zwanzig Kilometer weit auf ihrem Gepäckträger nach Hause. Ihr zweithäufigster Satz war: Bangemachen gilt nicht! Weniger häufig sagte sie: Das Kind schaukeln wir! und manchmal: Rosa macht das schon. Sie war Führerin in der Organisation »Glaube und Schönheit«.
Über Kameradschaft ging ihr nichts. Wenn sie irgend etwas auf den Tod nicht vertragen konnte, so war es, daß man sie belog. Mitten in der Nacht trat sie in den Schlafsaal der Jugendherberge, gerade
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