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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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»Hiob« von Joseph Roth anzurühren, auf die Seite gelegt, der Wand zugedreht. Jedes der Betten stand an einer der Längswände des kleinen Zimmers. Die beiden Nachttische paßten genau in die Lücke zwischen ihnen. Vor jedem Bett lag ein grau gemusterter Läufer aus BouclØ. Zu Füßen der Betten gabes ein Tischchen mit abstehenden Beinen und zwei von jenen unbequemen Stuhlsesseln, die wir in den fünfziger Jahren in unsere östlichen Nachbarländer exportiert haben. Der Schrank rechts neben der Tür. Die Nachttischlampe, wie in allen Hotels Nachttischlampen: klein, unpraktisch und düster.
    Bemüht, sowenig wie möglich mit den Blättern zu rascheln, hast du noch ein paar Minuten in der Zeitung gelesen, die ihr von zu Hause mitgebracht hattet. Die Schlagzeilen, die du dir später in der Potsdamer Landesbibliothek aus dem Blatt herausgeschrieben hast, lauteten: Höhere Ansprüche an die Arbeit der Gewerkschaften. – Ostseewoche mit Friedenskonzept. – Den guten Beispielen Massencharakter verleihen. – Soll in Zukunft der Nachwuchs der Arbeiterklasse nur noch aus den Hochschulen kommen? – Weltniveau muß täglich neu erkämpft werden. – Aus Angst krank: 30 Prozent aller Patienten leiden unter neurotischen Fehlhaltungen. – Starben Saurier nach Polwechsel?
    (Eine Meldung von heute, dem 26. Juni 1974: Das schwedische Friedensinstitut stellt in einer Studie fest: Der Atomsperrvertrag habe versagt. Es sei nicht gelungen, andere Länder vom Besitz von Atomwaffen auszuschließen. Auch verbrecherische Gruppierungen könnten sich in den Besitz spaltbaren Materials bringen.)
    Du machtest die Augen zu und sahst ein deutliches und getreues Bild des Marktplatzes von L., wie Nelly ihn gekannt hat, und es fiel dir schwer, dir den Marktplatz heraufzurufen, wie er jetzt ist und wie du ihn eben gesehen hattest. Lenka, die du schlafend glaubtest, fragte plötzlich, ob du »irgendwelche Heimatgefühle« hättest. Gerührt, daß sie sich um deine Stimmung sorgte,hast du ihr überzeugend versichert: Nein. – Dir fiel ein, daß Lenkas Frage auch ein schonendes Urteil über die Heimat enthielt, die ihr vorgeführt wurde. Sie konnte sie wohl nicht sehr anziehend finden.
    Es gelang dir nicht, einzuschlafen, dabei konnte man müder nicht sein. Das Zimmerfenster stand offen. Der Dachrand des niedrigen Hinterhauses begrenzte den immer noch hellen Himmel, an dem tatsächlich, wenn auch für dich nicht sichtbar, der Mond aufgegangen war. Das merk ich mir. Das sind die Sachen, die man sich merken kann. Das andere vergeht.
    Heimweh? Nein! – Das hörte sich gut an. Nur daß der Satz schon fertig war, lange ehe Lenka ihn hören wollte. So daß man nicht mehr wußte, ob man log oder die Wahrheit sprach. Da ein anderer als dieser Satz seit vielen Jahren überhaupt nicht in Frage kam.
    In dieser Nacht in der fremden Stadt mit ihren fremdsprachigen Geräuschen begreifst du, daß die Gefühle sich rächen, die man sich verbieten muß, und verstehst bis ins einzelne die Strategie, die sie anwenden: Wie sie, indem sie selbst sich scheinbar zurückziehen, benachbarte Empfindungen mit sich nehmen. Nun verbietet sich schon nicht mehr nur die Trauer, das Weh – auch Bedauern ist nicht mehr zugelassen und, vor allem, die Erinnerung. Erinnerung an Heimweh, Trauer, Bedauern. Die Axt an der Wurzel. Da, wo die Empfindungen sich bilden, in jener Zone, wo sie noch ganz sie selbst, nicht mit Worten verquickt sind, dort herrscht in Zukunft nicht Unmittelbarkeit, sondern – man scheue das Wort nicht – Berechnung.
    Und nun, wenn die Worte dazutreten, harmlos, unbefangen, ist alles schon vorbei, die Unschuld verloren.Der Schmerz – vielleicht vergißt man ihn jetzt – ist noch zu benennen, zu fühlen nicht mehr. Dafür, in Nächten wie diesen, der Schmerz über den verlorenen Schmerz ... Zwischen Echos leben, zwischen Echos von Echos ...
    Die Linien – Lebenslinien, Arbeitslinien – werden sich nicht kreuzen in dem Punkt, der altmodisch »Wahrheit« heißt. Zu genau weißt du, was dir schwerfallen darf, was nicht. Was du wissen darfst, was nicht. Worüber zu reden ist und in welchem Ton. Und worüber auf immer zu schweigen.
    Du stehst auf, ohne Licht zu machen – sehr leise, um Lenka nicht zu wecken –, und nimmst eine Schlaftablette.
    Nachts bin ich ein besserer Mensch (ein Zitat). Besser heißt in dieser Zeit: nüchterner, mutiger – eine Verbindung, die bei Tage selten geworden ist. Nüchtern und vorsichtig – ja. Mutig und kopflos – ja. In

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