Kindheitsmuster
rechtzeitig, umzwei Mädchen der Klasse durchs Fenster einsteigen zu sehen. Nächtliche Stelldicheins! sagte Rosa Kahn schneidend. Während man ihr doch hoch und heilig versprochen hatte, ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen! Nun, da die Damen anscheinend nicht müde seien: In drei Minuten antreten zum Nachtmarsch! – Sie sprach mit Nellys Klasse wochenlang kein Wort.
Geblieben ist: Eine Überempfindlichkeit gegen Massenübungen, tobende Sportstadien, im Takt klatschende Säle. Die leeren Straßen, leeren Kinos in der Zeit, da die Fußballweltmeisterschaft über den Bildschirm geht. – Welche Idee wurde hier, indem sie die Massen ergriff, zur materiellen Gewalt? Die Idee, ohne eine Idee auszukommen. (»The new idea for a new car!«)
I don’t see me in your eyes any more ...
In Ihren Augen, Fräulein Astrid, lese ich wie in einem aufgeschlagenen Buch. – Nach einigen Zwischenversuchen mit Magnetismus (meine Hände sind magnetisch; indem ich über Ihren Kopf streiche, ziehe ich Sie an Ihren Haaren nach hinten) hat Richard Andrack sich auf Astrid konzentriert. Das ideale Medium.
Der kleine Spaß mit der Zitronencreme, den ihm die Hausfrau verzeihen möge, gehörte zu den harmloseren Proben, obwohl es natürlich ein Jammer war, daß Fräulein Astrid auf diese Weise um den Genuß der herrlichen Speise kam. Dafür trank sie eben Wasser als Eierlikör: Herr Andrack entschädigte sie, das mußte man ihm lassen.
Er war sich ja selbst darüber im klaren, daß seine Zumutungen an die junge Dame etwas heikler Natur waren. Das sprach Herr Andrack freimütig aus, nachdem er Nellys Cousine mit drei, vier beschwörenden Sätzen,die den ungewöhnlich intensiven Blick seiner blaßblauen Augen unterstützten, in Tiefschlaf versetzt hatte. Er ließ sie also, augenscheinlich schlafend und ihrer selbst nicht bewußt, in ihrem Stuhl sitzen, während er Zeit fand, sich mit einer kleinen Ansprache an sein Publikum zu wenden – besonders an Onkel Walter Menzel, der ein finsteres Gesicht zog und mehrmals versucht hatte, den Blick seiner elternlosen Nichte, für die er eine Verantwortung fühlen mochte, von ihrem Betörer abzulenken und ihn, zum Zwecke der Willensstärkung, auf sich selbst zu ziehen. Herr Andrack nahm ihm das gar nicht übel. Voll und ganz verstand er die Vorbehalte des Laien gegen seine Disziplin. Für niemanden, sagte er, sei es eine Schande, wenn er eine Kunst wie die seine bei der ersten Begegnung mit ihr etwas heikel, ein wenig anstößig, vielleicht sogar zügellos finde. Er sagte freimütig, was Onkel Walter dachte. Er war aber überzeugt, daß selbst Skeptiker mit der Zeit die segensreiche Wirkung der Hypnose anerkennen würden.
Darauf brachte er schier unglaubliche Beispiele für Heilungen, die er selbst durch Hypnose bewirkt hatte: nicht, um sich zu brüsten, sondern nur, um der Gabe, die ihm von höherer Stelle verliehen war, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und um jedermann seiner lautersten Absichten, Fräulein Astrid betreffend, zu versichern.
Zunächst allerdings stach er Astrid mit einer desinfizierten Nähnadel in den Oberarm – ein Experiment, bei dem nicht sie, sondern ihre Tanten laut aufschrien. Sie nämlich, versicherte Andrack, fühlte keinen Schmerz. Dafür erzeugte er – immer nach dem Ausgleichprinzip – eine leichte Verbrennungsröte auf ihrem Handrücken,indem er mit einer kalten stumpfen Stricknadel behutsam darüberstrich, wobei er allerdings die Nadel für »glühend« erklärte. Man hätte sich wohl fragen müssen, ob nicht das Medium im Begriff war, zum Opfer zu werden. Doch niemand – außer Charlotte, ihrem Bruder Walter und ihrer Tochter Nelly – war noch in der Stimmung oder in der Lage, sich derartige Fragen zu stellen. Ihr Teil war es, zu staunen und zu bewundern. Nellys Teil, sich unheimlich angezogen und zugleich unheimlich abgestoßen zu fühlen. Und die zügellosen Bewunderer zu verachten.
Astrid sang – schlafend –: »Auf der Lüneburger Heide, in dem wunderschönen Land!« Sie begab sich ins Herrenzimmer und tanzte allein einen hingebungsvollen Walzer. Sie sprach auch fehlerfrei das Weihnachtsgedicht »Von drauß’ vom Walde komm ich her« – dies alles, wie Herr Andrack ausdrücklich betonte, Vorführungen aus Fräulein Astrids eigenem Repertoire, das sie allerdings ohne seine Veranlassung zu dieser Zeit und an diesem Ort wohl nicht zum besten geben würde. Er mache sich erbötig, falls die Herrschaften dies wünschten, Leistungen ganz anderer Art aus seinem
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