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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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das einfache, dunkelbraun gebeizte Holzhaus? Wie auch immer: Als sie die Pilze aßen, wußten sie es schon, Onkel Alfons hatte die Nachricht aus dem Dorf mitgebracht, das also vermutlich nahe lag. Am nächsten Morgen würden sie natürlich sofort nach Hause fahren. Auf den Führer war ein Anschlag verübt worden.
    Halbe Sätze, die in Nellys Gegenwart keine ganzen Sätze werden können. Man wird vor ihr nicht alles gesagt haben. Vorsicht, man kann nie wissen. Vielleicht hat es Blicke gegeben, die bedeuten sollen: Das ist der Anfang vom Ende. Oder Fragen: Ist das der Anfang vom Ende? Nelly kriegte die Blicke nicht zu sehen, die Fragen nicht zu hören.
    Zwei Tage später steht sie auf dem Marktplatz in Reih und Glied angetreten. Nun erst recht! ruft der Bannführer. Und daß der Führer, wie man sieht, unverwundbar ist. Das kommt Nelly allerdings auch so vor. Wochenlang tragen sie alle in der Schule die Hitler-Jugend-Uniform, und das, wie Charlotte nörgelt, in Zeiten, da es keine Bezugsscheine für BDM-Blusen gibt und es schier unmöglich ist, eine der zwei weißen Blusen, die Nelly besitzt, immer einsatzbereit zu haben.Nelly findet es nicht übertrieben, daß man die Treue zum Führer auch äußerlich zeigt. Charlotte meint, man solle Treue nicht durch Blusen zeigen müssen. Nelly schmerzt es, wenn die Mutter über heilige Gegenstände vom Standpunkt ihrer Waschküche aus urteilt.
    Gab es – abgesehen von jenem düsteren Ausruf der Mutter, dem die Gestapo ergebnislos nachging und der Nelly ja verschwiegen wurde – in ihrer Umgebung die leiseste Andeutung, daß manche Menschen den Krieg für verloren hielten? Die Frage ist mit Nein zu beantworten. Nelly hat also zum erstenmal Gelegenheit, am eigenen Leib zu erfahren, wie lange es dauert, bis man bereit ist, Undenkbares für möglich zu halten. Ein für allemal lernt man es nie. Jene Zeiten, in denen sie es nicht wagte, aus dem, was sie mit eigenen Augen sah, zutreffende Schlüsse zu ziehen, erkennst du an einer besonderen Art von Verlust: dem Verlust des inneren Gedächtnisses. Äußere Vorgänge ja: die ersten Flüchtlingstransporte, die in der Stadt ankommen. Aber weit entfernt ist Nelly, den besonderen Ausdruck in den Augen der Flüchtlinge anders zu deuten denn als Zeichen der Erschöpfung nach einer langen anstrengenden Reise. Es ist, als schiebe sich eine Wand zwischen ihre Beobachtungen und den Versuch, sie zu deuten.
    Die Müdigkeit, das scheint festzustehen, ist in diesen Monaten so groß, daß sie sich nicht mehr allein durch die nächtlichen Feindanflüge erklären läßt, von denen man sich eine Schädigung der Stadt kaum noch erwartet. Die Bombengeschwader, die Berlin zerstören, wenden über L. und drehen unbehelligt nach Westen ab. Trotzdem weckt Charlotte ihre Kinder gewissenhaft Nacht für Nacht, zwingt sie, sich anzuziehen und inden Keller zu gehen, der alles andere als bombensicher ist. Man soll das Schicksal nicht versuchen.
    Andere Szene: Der Vater sitzt in Hemdsärmeln am Eßzimmertisch, ißt seine Suppe und spricht mit der Mutter von den französischen Gefangenen, die in einer alten Fabrik untergebracht sind und für deren Bewachung er seit kurzem verantwortlich ist. Da haben sie den Bock zum Gärtner gemacht, sagt er. Einer, der selbst mal Gefangener war, kann ja Gefangene nicht schikanieren, sagt er. Er kann doch den Franzosen die kleinen Öfchen nicht verbieten, auf denen sie sich abends heimlich etwas brutzeln. Er kann auch keine strenge Leibeskontrolle durchführen, wenn sie von ihren Arbeitsstellen ins Lager einrücken. Obwohl er jedes Versteck eines Gefangenen aus dem Effeff kenne. Aber er wisse eben auch, was einem Gefangenen eine Scheibe Brot ist oder gar ein Stückchen Fleisch. Er kann die Leute nicht wegen Diebstahl bestrafen. Er selbst habe ja – und daran müsse er immer denken – einst in Frankreich seine Madame ans Kartenspiel gefesselt, während die Kameraden in ihre Räucherkammer einstiegen: Oh, monsieur Bruno, un filou!
    Aber die Geschichte kennen wir doch, sagte Charlotte Jordan müde.
    Schon. Bloß daß er jetzt eben immer daran denken müsse.
    Nellys äußeres Gedächtnis bewahrte die Szene auf, so wie der Bernstein Fliegen aufbewahrt: tot. Ihr inneres Gedächtnis, dessen Sache es ist, die Urteile zu überliefern, die man aus Vorkommnissen zieht, konnte sich keine Bewegung mehr leisten. Es blieb stumm. Nichts als mechanische Aufzeichnungen.
    Dies müßte Lenka verstehen, um zu glauben, daß Nelly jene Austreibung nie

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