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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Medium hervorzulocken.
    Ach ja! sagte Tante Trudchen dringlich.
    Woraufhin Astrid zu ihr ging und ihr eine Ohrfeige gab.
    Nun – das war stark, man war sich einig. Nur fand man es schwierig, auf angemessene Weise darauf zu reagieren. Die Trägerin der mehr als ungehörigen Handlung – Astrid – war ja offensichtlich in einem höheren Sinne abwesend und nicht verantwortlich zu machen; ihr Inspirator, Herr Richard Andrack, lächelte, als habeer die Unart eines Kindes abzubitten: Ich garantiere, sie weiß von nichts, wenn sie aufwacht! – Außerdem war er hier zu Gast. Es schien geraten, den Vorfall in seinem Sinne aufzufassen und zu belächeln.
    Dann stieg Cousine Astrid auf den Tisch.
    Viel fehlte nicht – nur schnelles Zupacken von allen Seiten verhinderte das Schlimmste –, und sie hätte sämtliche Gläser mit einer einzigen Fußbewegung vom Tischtuch gewischt. Jetzt war ein Wort am Platze, das bisher niemand ausgesprochen hatte: hemmungslos. Wenn ein Mädchen erst mal auf den Tisch steigt, war Charlottes Ansicht, dann muß man mit allem rechnen. Astrid exerzierte nach den Kommandos des Unteroffiziers Andrack auf dem Tisch wie ein Rekrut. Rechts-, Links- und Kehrtwendungen schienen ihr genauso im Blut zu liegen wie das Grüßen mit und ohne Kopfbedeckung, der Parademarsch auf der Stelle (mein Tisch! sagte Charlotte vorwurfsvoll, aber nicht sehr laut) und der Gewehrpräsentiergriff, den sie gewiß niemals vorher geübt hatte.
    Nelly sah, daß ihre Cousine alles konnte und alles machte. Sie sah, daß es im Bereich des Menschenmöglichen lag, vor allen Leuten auf den Tisch zu steigen und, da Herr Andrack die Anregung dazu gab, einen Bauchtanz vorzuführen. Cousine Astrid war schon immer anders gewesen als sie. Nelly aber hatte allen fortgesetzten Versuchen des Herrn Andrack, sich ihrer zu bemächtigen, wacker und bewußt widerstanden. Es wäre ihr als ein Makel erschienen, so leicht verführbar zu sein.
    Trotzdem mußte sie sich fragen – nicht gerade in ausdrücklichen Worten, doch im wortlosen Gespräch mitsich selbst –, ob es sich eigentlich lohne, jeder Verführung zu trotzen. Ob es nicht ganz amüsant wäre – oh, mehr als amüsant: betörend, lustvoll –, sich unter den magnetischen Händen des Herrn Andrack einfach nach hinten sinken zu lassen; er fing einen ja auf. Vor aller Augen auf den Tisch zu steigen und sich zu wiegen, wie es die Cousine jetzt tat.
    Zugleich wußte sie: Das war ihre Sache nicht. Ihre Sache war, die eine zu beobachten und ein wenig zu beneiden, den anderen zu durchschauen. Und alles – die geheime Sehnsucht, den Neid, das Gefühl von Überlegenheit – vor jedermann zu verbergen.
    Nun zielte Cousine Astrid auf Herrn Andracks Geheiß mit einem Besenstiel, den sie wie ein Gewehr anlegte, in die Menge der Verwandten. Die Kugel, wäre sie abgeflogen, hätte Onkel Walter mitten ins Herz getroffen.

13
    Dreizehn ist eine Unglückszahl.
    Flucht wider Willen – auch eines der Stichworte, auf die ein Leben sich festlegen ließe. (»Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«)
    Im Idealfall sollten die Strukturen des Erlebens sich mit den Strukturen des Erzählens decken. Dies wäre, was angestrebt wird: phantastische Genauigkeit. Aber es gibt die Technik nicht, die es gestatten würde, ein unglaublich verfilztes Geflecht, dessen Fäden nach den strengsten Gesetzen ineinandergeschlungen sind, in die lineare Sprache zu übertragen, ohne es ernstlich zu verletzen. Von einander überlagernden Schichten zu sprechen – »Erzählebenen« –, heißt auf ungenaue Benennungen ausweichen und den wirklichen Vorgang verfälschen. Der wirkliche Vorgang, »das Leben«, ist immer schon weitergegangen; es auf seinem letzten Stand zu ertappen bleibt ein unstillbares, vielleicht unerlaubtes Verlangen.
    Herr Andrack hat noch spätabends, als Cousine Astrid endlich vor ihm fliehen wollte, mit einem einzigen liebenswürdigen Satz (Aber Fräulein Astrid! Es wird Ihnen doch nicht im Ernst einfallen, uns zu verlassen!) die unverschlossene Flurtür für sie verriegelt, so daß sie Nelly bitten mußte, ihr zu öffnen. Gegen Mitternacht, als beinah alle Gäste – auch Andrack – gegangen waren, setzte sich Nelly ihrem Onkel Walter auf den Schoß und mußte sich dafür von ihrer Mutter zurechtweisen lassen: Sie müsse sich daran gewöhnen, daß siekein Kind mehr sei. Eine Ahnung kam ihr, was das bedeuten konnte, und es tat ihr leid.
    In G., am Abend jenes

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