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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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jener Nacht, bis die Tablette zu wirken begann, bist du nüchtern und mutlos gewesen – was etwas anderes als feige ist – und mit der rasch verfliegenden Fähigkeit begabt, dich zu durchschauen und es zu ertragen.
    Das Buch würdest du nicht schreiben können, und du wußtest, warum.
    Du kennst die Gegengründe bis heute, sie sind nicht gegenstandslos. Der nicht zu begründende Umschlag kam am nächsten Morgen. Die Hitze schon um sieben. Frisches Erwachen nach wenigen Stunden Schlaf. Alles war anders. Der Luxus vollkommener Aufrichtigkeit – warum sollte er gerade dir ausgesucht sein? Dieses unzeitgemäße, absondernde Glück – das einzige, das diesen Namen verdient? Erleichtert warst du, beinahelos und ledig der Gewissenslast der allzu Glücklichen.
    Tun wir nicht alle, was wir eigentlich nicht können, wissen darum und reden nicht davon, weil es unsere einzige Hoffnung ist?
    Der Traum jener Nacht hatte mit den Phantasien vor dem Einschlafen scheinbar nichts zu tun; erst später, heute, liegen die Zusammenhänge offen. Du sahst dich als Mann, mit Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet, die dir in deiner wirklichen Gestalt abgehen. Es schien, du könntest alles, was du wolltest. Drei Frauen verschiedener Lebensalter kamen vor, mit denen du befreundet gewesen bist und die alle an Krebs gestorben waren. Sie schienen auf dich nicht zu achten. Doch fühltest du wohl, daß sie dich auf eine ganz ungehässige, aber intensive Art beneideten, und da wußtest du es selbst mit einem starken Schuldbewußtsein, wie sehr beneidenswert du doch warst.
    Montag, der 1. Juli 1974. Ein General Pinochet ernennt sich selbst zum obersten Führer der Nation. Die Namen der vier kürzlich ermordeten Chilenen, die gestern in der Zeitung standen: Jose, Antonio Ruz, Freddy Taberna, Umberto Lisandi. Fast genau vierzig Jahre früher hat der »General-Anzeiger« berichtet, daß vier Kommunisten aus L. vor dem Reichsgericht wegen Zersetzungsarbeit verurteilt worden seien. Fast genau neununddreißig Jahre früher standen Namen im »General-Anzeiger«, deren Trägern man wegen Unwürdigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatte: Bertolt Brecht, Hermann Budzislawski, Erika Mann, Walter Mehring, Friedrich Wolf, Erich Ollenhauer, Kreszintia Mühsam (die, was nicht verschwiegen werden soll,in der Sowjetunion, wohin sie geflohen war, später in ein Lager kam und erst in ihren letzten Lebensjahren die Verwaltung von ihres Mannes literarischem Erbe wieder übernehmen konnte). In anderen Ländern und Erdteilen haben vor vierzig Jahren die Leute, in deren Zeitungen deutsche Namen standen, das Blatt zusammengefaltet und es neben ihre Frühstückstasse gelegt. Dieser sich wiederholende Vorgang steht dir vor Augen, während du die Zeitung von gestern zusammenfaltest und sie in den Zeitungsständer steckst. Gestern ist also in einer Kirche die siebzigjährige Mutter von Martin Luther King ermordet worden.
    Auf einer alten, leicht stockfleckigen Karte der »Provinz Brandenburg«, die in die Regierungsbezirke Potsdam und Frankfurt (Oder) zerfällt – einer Karte, die keine Jahreszahl trägt, aber noch nach deutschen und preußischen Meilen mißt und bei C. Flemming in Glogau gedruckt und verlegt wurde –, findet sich südöstlich von Seidlitz und Dechsel der Ort Birkenwerder, dessen Namen einem Ortsnamen, den du nur ungenau erinnerst, am nächsten kommt und deshalb hier für diesen stehen soll. Die Karte mag vor der Einführung der norddeutschen Meile im Jahre 1868 gedruckt sein. Birkenwerder bei Schwerin also. Der Ort selbst wird gar nicht in Erscheinung treten. Nur soviel davon: Er muß von Kiefernwäldern umgeben gewesen sein (eine Bedingung, die Birkenwerder gewiß erfüllt). Die Familie von Onkel Alfons Radde, Nelly mit ihr, verbringt eine Woche in einer Art Jagdhütte, die Alfons Raddes Chef, Otto Bohnsack, hier draußen besitzt. Pfifferlinge in unübersehbarer Menge in den Wäldern. Nelly als einzige ist keine passionierte Pilzsucherin. Aber der Wald,Kind, der Wald! Tante Liesbeth geniert sich nicht, »Wer hat dich, du schöner Wald« anzustimmen. Nelly geniert sich, und ihr inzwischen neunjähriger Vetter Manfred geniert sich auch. Nelly entdeckt, daß sie eine Zuneigung zu diesem Vetter nicht mehr vortäuschen muß, sie sondern sich ab, tuscheln und kichern miteinander.
    Der Wald duftet stark. Vielleicht hatte es am Vormittag geregnet, der Nachmittag des 20. Juli 1944 war, wie ein Sommertag sein soll. Gab es eine Art Birkenzaun um

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