Kindheitsmuster
Bescheid. Aus der Traum, sagt sie zu Leo Siegmann. Und wo bleibt euer Endsieg?
Jetzt flieht auch sie.
Lenka tritt ein. Sie muß noch etwas erzählen. Gestern abend, als sie von ihrer Jugend-Tourist-Reise nach Živohošt’ bei Prag zurückkam, hat sie etwas Wichtiges vergessen: nämlich, welche Lieder unsere Touristen imsozialistischen Ausland singen. Oder ahnst du, was sie singen, wenn sie sich abends mit Prager Bier vollaufen lassen?
Warum ist es am Rhein so schön, vermutest du.
Nein, diesmal nicht. Diesmal zwei andere Lieder. Das erste: Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier.
Kenn ich, sagst du. Und das zweite?
Lenka sagt: In einem Polenstädtchen. Das kennst du nicht?
Nein.
Aber ich. »In einem Polenstädtchen, / da lebte einst ein Mädchen, / die war so schön, so wunderschön, / die war das allerschönste Kind, / das man in Polen findt, / aber nein, aber nein, sprach sie, / ich küsse nie.«
Geht es noch weiter? fragst du. Die Wut und die Lust, in singende Gesichter zu schlagen, die kennst du auch.
Das Lied hat drei Strophen. Von den beiden letzten kannte Lenka nur Bruchstücke. In der zweiten Strophe, wußte sie, passiert »es«. Worauf »das Polenmädchen« sich erhängt, einen Zettel um den Hals, »worauf geschrieben stand: / Ich hab’s einmal probiert / und bin krepiert.«
Die waren wirklich von uns, Lenka?
Was denkst du denn!
Wie alt?
Zwischen zwanzig und dreißig. – Aber es kommt noch besser. Weißt du, wie die dritte Strophe ausgeht?
Ja?
»Nimm dir ein deutsches Mädchen bloß, / das nicht beim allerersten Stoß / krepieren muß.«
In diesem Frühherbst wird es abends schnell kühl. Heute geht der meteorologische Sommer zu Ende. Duweißt, daß man es sich nicht wünschen darf, schneller alt zu werden. Im Zeit-Sinn leben! Man muß dem Sinn der Zeit eine Chance lassen, daß er sich einem zeige. Heute vor fünfunddreißig Jahren hat mit der Eroberung von Polenstädtchen durch deutsche Soldaten ein großer Krieg begonnen. Mit einmal ist dir das Interesse dafür abhanden gekommen, zu beschreiben, wie einige Leute – Deutsche – das Ende dieses Krieges erlebt haben. Diese Leute können dir gestohlen bleiben. Ein Lied, in diesem Sommer 74 von Deutschen gesungen, hat dir jede Anteilnahme an ihnen genommen.
Was haben denn die Tschechen dazu gesagt, Lenka? – Die haben nur groß geguckt und gegrinst.
Die Sänger werden keine Zeile dieses Buches lesen. Sie haben nicht hingesehen, als, vor nun schon zwei Jahren, drei polnische Frauen, die im deutschen KZ Ravensbrück »medizinischen Experimenten« unterworfen waren, vor der Fernsehkamera aussagten. Die eine war gegen ihren Willen und ohne Notwendigkeit operiert worden. Der anderen hatte man eine Spritze in die Brust gegeben, die danach hart und schwarz geworden ist und abgenommen werden mußte. (»Ich mußte immer daran denken, daß ich nie einen Mann haben würde, keine Kinder, kein Zuhause. Nichts.«) Die dritte war nach gewaltsam verabreichten Injektionen jahrelang über und über von Geschwüren bedeckt. Sie bekam 1950 ein Kind, Jadwiga. Das schrecklich entstellte Gesicht dieses jungen Mädchens erschien plötzlich groß auf dem Bildschirm.
Warum haben Sie sich ein Kind gewünscht! hat die Geburtshelferin, eine Professorin, nach der Entbindung zu Jadwigas Vater gesagt. Es ist doch vollkommen klar,daß diese Verkrüppelung eine Folge des KZ-Aufenthalts Ihrer Frau ist.
Jadwiga sprach selbst. Sie weinte. Die zweiundzwanzig Jahre des Lebens auf dieser Welt seien ihr ein fortwährender Alptraum gewesen. Ihr einziger Trost sei, daß sie lernen könne. Sie studiere Mathematik an der Universität Warschau, gehe aber nicht in die allgemeinen Vorlesungen, das wäre zu schwer für sie. Sie sagte: Ich möchte leben wie alle Menschen und etwas Gutes für die Menschen tun, das ihnen nützt.
Keine Zeile mehr. Abend. Im Fernsehen singt ein Chor schwarzer alter Männer: O when the Saints go marchin’ in ...
Bach-Musik.
Das Zugunglück in Zagreb ist auf menschliches Versagen zurückzuführen.
In G. (vormals L.), einem Polenstädtchen, habt ihr am Sonntag, dem 11. Juli 1971, früh gegen neun in einer Milchbar am Marktplatz gefrühstückt.
»Ich habe viel aufgeschrieben, um das Gedächtnis zu begründen.« Johann Wolfgang Goethe.
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Verfallen – ein deutsches Wort.
Blick in fremde Wörterbücher: Nirgends sonst diese vier, fünf verschiedenen Bedeutungen. Die deutsche Jugend ist ihrem Führer verfallen. Der Wechsel auf die Zukunft ist
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