Kindheitsmuster
wehruntauglichenBerufsfahrer gesteuert, zuerst bis Seelow, dann über Wriezen, Finow, Neuruppin, Kyritz, Perleberg bis Wittenberge an der Elbe kommt. Er braucht dazu gut vierzehn Tage, im kältesten Winter, den wir seit langem hatten. Entlang der Strecke gibt es immer mal wieder Leute, denen der Firmenname aufgefallen ist und die Charlotte Jordan, die ja bald ihre Kinder suchen wird, fragen kann.
Nelly hatte ihren festen Platz auf einem der Jordanschen Bettensäcke, der mit der Zeit hart wie Stein wurde, nahe der Ausstiegsklappe. Sie konnte einen Blick durch das kleine Zellophanfenster werfen, das in die rückwärtige Zeltplane eingelassen war. Grauer Schneehimmel, die kahlen Äste von Kirsch- und Apfelbäumen am Rande der Landstraße und nur ausnahmsweise ein Stück der Straße selbst. Daß sie die Oder passiert hatten, wurde mit Erleichterung quittiert: zwischen sich und den vermutlich nachrückenden Feind den großen Fluß gelegt zu haben, den der Russe doch gewißlich nie und nimmer würde bezwingen können.
Am Spätnachmittag des ersten Tages, vor den Seelower Höhen, heißt es abspringen, den Wagen erleichtern, schieben helfen. Die Straße ist schneebedeckt, eisglatt, von Flüchtlingstrecks verstopft. Der verfluchte Wagen, dem diese Steigung unter normalen Witterungsbedingungen überhaupt kein Problem wäre, rückt und rührt sich nicht. Nelly erwachte für kurze Zeit aus ihrer Betäubung und sah, was auf der Straße vor sich ging. Die sinnlosen Aktionen, welche die Wagen nur noch mehr ineinander verkeilten. Den sinnlosen Hausrat, der auf den Bauernwagen aufgehäuft war, ein Zeichen dafür, daß sie alle sich am Rande der Verwirrung, umnicht zu sagen, des Wahnsinns bewegten. Dazu die kleinen Wehrmachtseinheiten, die ihnen entgegenkamen und sich in den Flüchtlingszug verknäulten: Was meinten sie eigentlich an der Oder auszurichten?
Immerhin überwanden sie mit Hilfe der Anschubkraft eines Wehrmachtsfahrzeuges die Seelower Höhen, das Signal zum Einsteigen wurde gegeben, Nelly hockte auf ihrem Bettensack. Sie wünschte, immer nur weiterzufahren, egal, wohin. Nicht anhalten müssen, nichts mehr sehen müssen. Später hat man die Fluchtwege von Charlotte Jordan und Otto Bohnsacks Lastwagen zeitlich genau simultan geschaltet, hat herausgefunden, daß sie sich schon in Seelow nur um Stunden verfehlt haben: Charlotte nämlich, von der Kaserne nach Hause gekommen, kocht noch einmal Kaffee auf ihrem Herd – ein paar echte Kaffeebohnen hatte sie in Reserve –, dann kommt verabredungsgemäß ihr Bruder Walter. Die letzte Mahlzeit zu zweit am Küchentisch, belegte Brote. Davon jedem ein paar in die Aktentasche, die sie mitnehmen, als einziges Gepäck.
Denn nun heißt es laufen. Die Zigaretten – sie rauchen beide nicht – sind nützlich, um den Fahrer des letzten Postautos nach Küstrin zu überreden. Er läßt sie einsteigen. Das ist schon hinter Vietz. Charlotte hat sich schon Blasen gelaufen. Sie haben, jeder für sich, erwogen, daß sie vielleicht nicht mehr über die Oder kämen und von ihren Familien abgeschnitten würden. Später gestehen sie es sich ein, daß sie die Lage realistisch gesehen haben.
Das Postauto fährt nicht weiter als bis Küstrin. Es ist mitten in der Nacht, trotzdem gibt es Leute auf den Straßen. Charlotte fängt an, ihre zwei Fragen zu stellen:Ob hier ein Zug mit gefangenen Franzosen durchgekommen sei und ein Lastwagen mit der Aufschrift Otto Bohnsack und Co. Auf die erste Frage lauteten alle Antworten nein (Bruno Jordan war schon den zweiten Tag in Gefangenschaft), auf die zweite, nach längerer Zeit: Ja. Weiter in Richtung Seelow.
Dort kamen sie, Charlotte und ihr Bruder Walter, am Vormittag an, und der Lastzug, den sie suchten, war eine Stunde früher aufgebrochen. Sie sahen, wo die Ihren genächtigt hatten: unter und neben den Schreibtischen einer Steuerdienststelle. Das mußte ja nun ein Kinderspiel sein, sie zu finden, dachte Charlotte, aber sie irrte sich ...
Die Nacht übrigens hatte nicht viel Schlaf gebracht. Das Stroh auf dem Fußboden war das Schlimmste nicht. Viel schlimmer war der rapide Verfall der Sitten, der sich in lautem Gezänk kundtat. Nelly und ihre Angehörigen waren als Flüchtlinge Anfänger; das oberste Gesetz des Flüchtlingslebens hatte sich ihnen noch nicht eingeschliffen: Laß dich durch nichts und niemanden von einem trockenen und warmen Platz vertreiben, wenn du ihn einmal erobert hast. Schnäuzchen-Opa, dessen anfälliges Verdauungssystem der ganzen
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