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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Familie nur allzu bekannt war, hätte wohl einen Platz gleich neben der Tür haben müssen, um schnell die Toiletten erreichen zu können. Dort aber lagerten kaum verhandlungswillige Schicksalsgenossen aus den östlichen Gauen des Reiches, über die Schnäuzchen-Opa nun mehrmals des Nachts hinwegsteigen mußte, bis sie anfingen, sich in ihrem breiten westpreußischen Dialekt zu beschweren. Tante Liesbeth wollte ihren Vater nicht von irgendwelchen Hergelaufenen beschimpfen lassen, sieschimpfte zurück. Da machte Schnäuzchen-Opa den Fehler, ein unwirsches Wort gegen seine eigene Tochter zu richten und löste damit die erste der zahllosen großen Szenen aus, die nach und nach die Eingeweide der Familie bloßlegen sollten und Nelly, die ihnen beklommen, aber aufmerksam beiwohnte, mehr als einmal denken ließen: So ist das also.
    So war das also: Tante Liesbeth ließ sich von ihrem Vater nicht mehr den Mund verbieten. Sie zitterte nämlich nicht mehr vor ihm, wie sie als Kind gezittert hatte, wenn er besoffen (Liesbeth! beschwor Lucie Menzel die Schwägerin. Erbarm dich!), jawohl: besoffen nach Hause kam. Und dann nicht wußte, was er tat. – Liesbeth, Mädel! das war Schnäuzchen-Oma, halb aufgerichtet im Stroh. Die sollte aber bloß stille sein, denn woher hatte sie die kleine Narbe an ihrer Stirn? Jawohl: von einer Scherbe der Petroleumlampe, die ihr Mann nach ihr geworfen hatte! – O mein Gott, was du redest.
    Die Narbe kannte Nelly ja gut, war oft genug mit dem Finger darübergefahren: Woher hast du das? – Ach Kind, wie man eben zu so was kommt! – So war das also.
    Sie verließen Seelow in Richtung Wriezen. Ihre Mutter und ihr Onkel Walter, die falsch kalkulierten, vielleicht auch verführt waren durch momentan sich anbietende Transportmöglichkeiten, wendeten sich in die Ruinenstadt Berlin, die Bohnsacks Lastzug auf der nördlichen Route umging.
    Wenn du den Kopf hebst, fällt dein Blick auf einen alten Stich der Stadt L., den dir kürzlich ein Freund geschenkt hat. Er zeigt die Silhouette der Stadt von jenem Standort aus, von dem sie sich am vorteilhaftesten anbietet:von jenseits des Flusses. Wichtige Bauwerke, deren Umrisse sichtbar sind, wurden von A bis L durch Buchstaben gekennzeichnet. A ist Der Krug, B Mühlen-Thor, D Färberey. Unter C steht: Synagoge. Das turmlose hohe Dach der Synagoge ragte also zwischen Mühlen-Thor und E = St. Mariä Kirche aus der Dächersilhouette der Stadt. Auf diese Weise kannst du die Lage des Bauwerks ungefähr ausmachen und mußt dir nachträglich sagen, daß du bei deinem Besuch im Juli 1971 die Reste oder wenigstens den Standort der Synagoge am falschen Platz gesucht hast. Ihr seid – nach dem Aufstehn, nach dem Verlassen des Hotels – am Sonntagmorgen noch einmal ganz langsam die kleinen Straßen zwischen Bahnhof und Markt abgefahren, jene Straßen, in denen du die Synagoge vermutetest, ohne sie zu finden.
    Es blieb dann bei dem Espresso am Markt. Man stand mit seinem Tablett ein paar Minuten in der Schlange, holte sich ein Glas guten Kaffees, dazu Eier, Brötchen. Lenka bekam einen großen Becher Kakao. Es schien ein Gesetz zu sein, daß dir wohl wurde, sobald du dich hier zum Essen niedersetztest. Du lobtest den Farbton der Wände – ein helles Grün –, die praktischen, sauberen Sprelacarttische, die leichten Stühle. H. fand, du übertriebst das Lob, aber du zwangst dich nicht dazu. Du zwangst dich zu gar nichts. Am Ende lobtest du noch die Sonne, die hereinfiel. – Es wird wieder mächtig heiß, sagte Bruder Lutz. – Du warst es zufrieden, als Fremdling am Fuß der Marienkirche zu sitzen. Das alles, sagtest du, das ganze Haus, in dem wir hier sind, hat es ja früher gar nicht gegeben. Natürlich fingen die Glocken zu läuten an, der Andrang der Gläubigensetzte ein, später gab es kein Hineinkommen mehr.
    Lenka ließ sich auf dem Autoatlas euren Fluchtweg zeigen. Es gab einen Disput zwischen Lutz und dir über die Fahrtroute: Wie hättest du glauben können, ihr hättet Berlin südlich umgangen? So abwesend kann Nelly gewesen sein? Lutz, der Jüngere, mit dem zuverlässigeren Gedächtnis für alles Sachliche. Er sagt, lächelnd: Weniger abgelenkt durch Innenleben. Hat doch auch was für sich, findest du nicht? – Aber ja. Immer.
    In Wittenberge hatte Nellys Familie – zwölf Personen – ein ganzes Klassenzimmer besetzt. Das wußtet ihr beide.
    Und du? fragte Lenka ihren Vater. Sein Finger fährt eine andere Route, die läuft von Süden nach Norden. Von der

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