Kindheitsmuster
vermummtes Bündel, das ihr aus einem der Planwagen zugereicht wurde, damit sie es an die Mutter weitergab, war tot: erfroren. Die junge Frau erkannte es an Zeichen, die Nelly nicht bemerkt hatte, ohne das Bündel erst aufschnüren zu müssen. Die Frau schrie sofort los, mit jener Stimme, die man nicht oft zu hören bekommt und die einem – in solchen Augenblicken erlebt man die Wahrheit mancher unerträglicher Redewendungen – »das Blut in den Adern stocken« läßt. So hab ich noch nie jemanden schreien hören, war das letzte, was Nelly dachte, danach dachte sie nichts mehr.
»Black box« hat man derartige Zustände später genannt, ganz zutreffend übrigens. Das Gehirn ein schwarzer Kasten, unfähig, Bilder aufzunehmen, geschweige Worte zu formen. Vermutlich – anders kann es ja nicht gewesen sein – ließ sie fallen, was sie gerade in der Hand hielt, zog sich steifbeinig bis zum Gartentor des Lokals »Weinberg« zurück, machte auf dem Absatz kehrt und lief davon. Nach Hause, wo sie zwar lange nicht reden, am Ende aber doch weinen konnte. Das nächste Bild nach der Erinnerungslücke: Das Eßzimmer, sie selbst auf dem alten Sofa liegend, vor ihr die Mutter mit der großen Teetasse.
Am nächsten Tag hat sich die Formel eingestellt, die jeden befriedigt, als Entschuldigung verwendbar ist und den Vorzug hat, nicht ganz falsch zu sein: Nelly hat sich erkältet und muß das Bett hüten. Ein Schnupfen, Kopfschmerzen, Fieber, das natürlich niemand mehr »Nervenfieber« nennt, wie auch das überspannte Wort »Zusammenbruch« dahin zurückfällt, wohin es gehört: in den Vorrat der unaussprechlichen Wörter. Bis es, wenige Monate später, zu größerer Verwendung und für den allgemeinen Gebrauch daraus hervorgezogen wird und auf einmal geeignet scheint, Zeitalter voneinander zu trennen: Vor dem Zusammenbruch, nach dem Zusammenbruch. Da war der einzelne seines eigenen Zusammenbruchs enthoben.
Nelly bekommt Besuch. Sie, krank, »im Kreise« ihrer Freundinnen: Eines der letzten Bilder aus dem Haus an der Soldiner Straße, das wir – es kann sich nur noch um Tage handeln – nun aber schleunigst zu verlassen haben, um es nie wieder zu betreten. Julia Strauch, das weiß sie noch nicht, hat sie schon zum letztenmal gesehen.Es beginnen die unwiderruflichen Abschiede der Fünfzehnjährigen. An diesem letzten Nachmittag sind sie ausgelassen. Sie kichern und glucksen, ohne zu wissen, worüber. Nur als Dora von einem Gerücht erzählt, das in Brückenvorstadt umgeht, wo sie wohnt: Russische Panzerspitzen seien über Posen vorgestoßen, ja, südlich von Frankfurt hätten sie schon die Oder erreicht – da weiß man, worüber man lacht. Russische Panzer an der Oder!
Das Gespräch der Freundinnen hat um den 25. Januar herum stattgefunden, etwa zwei Tage, nachdem die Armee des Marschalls Konjew zwischen Oppeln und Ohlau (heute Opole und Olawa) die Oder erreicht hatte, während die für Nelly und ihre Freundinnen zuständigen Truppenteile unter dem Befehl des Marschalls Shukow – die Stadt L. zunächst nördlich und südlich umgehend – zu ihrer Zangenbewegung auf Küstrin (heute Kostrzyn) angesetzt hatten. Am gleichen Tag übertrug der Führer dem Reichsführer SS Himmler persönlich den Oberbefehl über die zur Verteidigung der uns interessierenden Gebiete aufgestellte »Heeresgruppe Weichsel«; der Tag, an dem Generaloberst Guderian, Chef des Generalstabs des Heeres, den Reichsaußenminister Ribbentrop aufsucht, um ihm – ergebnislos natürlich – »die Augen über die bedrohliche militärische Lage zu öffnen« (Nachkriegsveröffentlichungen Guderians: »Erinnerungen eines alten Soldaten«, 1951; »Kann Westeuropa verteidigt werden?«, 1951); fünf Tage ehe Rüstungsminister Speer in einer Denkschrift an den Führer – folgenlos natürlich – den bevorstehenden vollständigen Zusammenbruch der deutschen Kriegswirtschaft feststellt; sieben Tage ehe sowjetische Truppennördlich und südlich von Küstrin die Oder überschreiten, auf deren Westufer sie Brückenköpfe bilden. Fünf Tage ehe Bruno Jordan – mit seinen französischen Gefangenen in Richtung Soldin – Stettin in Marsch gesetzt – in dem Dorf Liebenow von der nördlichen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte gefangengenommen wird; vier Tage ehe Nelly und – wenn auch für immer voneinander getrennt – ihre Freundinnen in letzter Minute, bevor die Zange sich schloß, in Küstrin über die Oder gehen. Fünfeinhalb Tage ehe Charlotte Jordan als Insassin des
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