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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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verfallen. Ihre Dächer sind verfallen. Aber die ist doch verfallen – haben Sie das nicht gewußt.
    Keine andere Sprache kennt »verfallen« im Sinne von »unrettbar, weil mit eigener tiefinnerster Zustimmung hörig«.
    Letzte Nacht – du hattest den Wecker falsch gestellt, er klingelte um fünf, müde, aber nicht ärgerlich lagst du wach – verfielst du merkwürdigerweise auf ein Gedicht des Weimarers, an das du wohl zwanzig Jahre nicht mehr gedacht hattest: Die Zukunft decket Schmerzen und Glücke / Schrittweis dem Blicke / Doch ungeschrecket / Dringen wir vorwärts.
    Der Einfall mochte mit den diesjährigen Goethe-Feiern zusammenhängen. Aber gerade dieses Gedicht war nirgends benutzt worden. Es war eine Lust, mit anzusehen, wie es fast unbeschädigt Zeile für Zeile aus dem Gedächtnis aufstieg, die Strophen selbst hervorzubringen und sie zu hören wie zum erstenmal: Und schwer und ferne / Hängt eine Hülle / Mit Ehrfurcht. Stille / Ruhn oben die Sterne / Und unten die Gräber.
    Das Gedicht mußte ja wohl in dem kleinen blauen Gedichtbüchlein stehen. Dieses Büchlein, fiel dir ein, während das Gedicht auf einer anderen Ebene deines traumwachen Bewußtseins weiterlief, war der eine von zwei Gegenständen, die du aus jenen frühen Zeiten, an diejetzt die Erinnerung rührt, herübergerettet und mitgenommen hast. Der zweite Gegenstand ist das große breite Messer, unentbehrlich zum Wenden von Eierkuchen, das Schnäuzchen-Oma versehentlich von einer Bäuerin mitnahm, in deren Scheune sie als Flüchtlinge übernachtet hatten. Der Wutausbruch von Schnäuzchen-Opa, als er es entdeckte: Wir sind doch keine Diebe nicht! – Allen Ernstes verlangte er, man solle umkehren und das Messer zurückbringen.
    Gutgut. Gleich morgens nach dem Aufstehn würdest du das Gedicht in dem blauen Buch suchen.
    Hier winden sich Kronen / in ewiger Stille, / Die sollen mit Fülle / Die Tätigen lohnen.
    Im Halbschlaf fingst du an, Fragezeichen hinter einige Zeilen zu machen. »Ungeschrecket«? dachtest du. Und was heißt »vorwärts«? Und »die Kräfte des Guten«?
    Erst als du nach dem zweiten Erwachen die vier Strophen schnell aufschriebst, fiel dir die Lücke im optischen Bild am Ende der letzten Strophe auf. Da fehlte eine Zeile. Erst ein, zwei Stunden später, da eine genaue Suche durch Alltagsverrichtungen aufgehalten wurde, stand sie plötzlich vor dir und bestürzte dich: Wir heißen euch hoffen!
    Wie war es möglich, oder vielmehr, was bedeutet es denn, wenn man, da doch sonst das Gedicht intakt geblieben, ausgerechnet eine Zeile dieses Inhalts »vergaß«?
    Übrigens stand das Gedicht nicht in dem kleinen blauen Buch. Das liegt jetzt neben dir, du kannst es in die Hand nehmen, darin blättern. Vierhundertsechzehn dünne, bräunlich vergilbte Seiten: »Goethe’s Gedichte«,1868 in der G. Grote’schen Verlagsbuchhandlung, Berlin, herausgebracht. Bräunlich fleckiges Vorsatzpapier, auf dem rechts oben in der flüssigen, energischen Schrift von Maria Kranhold, die Nelly das Büchlein schenkte, dein früherer Name steht. In der Mitte der Seite aber ist in der altmodischen Sütterlinschrift des vorigen Jahrhunderts mit spitzester zittriger Feder und brauner Tinte geschrieben: Von meinem Bruder Theodor. Und von der gleichen Hand rechts in der Ecke die Jahreszahl 1870.
    Der ganze Vormittag wurde darauf verwendet, das Gedicht zu finden. Ein gebildeter Freund, den du schließlich anriefst, gab ihm die Überschrift »Maurerlied«, die zwar nicht stimmte, aber doch wenigstens die Nachforschungen auf die richtige Fährte brachte: Unter dem Titel »Symbolum« steht es ja als erstes in dem Abschnitt »Loge«, ist insofern allerdings ein Freimaurerlied und hat – dies war nun die größte Überraschung – zwei Strophen, die du nicht zu kennen meintest: Des Maurers Wandeln / Es gleicht dem Leben ... Und so weiter. (Daher die vergebliche Suche nach der ersten Zeile!)
    Immer alles schön der Reihe nach, wie Charlotte Jordan sagen würde. Wer langsam fährt, kommt auch zum Markt. Dem blauen Buch folgen oder zuerst dem Messer? Dem Messer zuerst, mit dem Treck über die Dörfer. Es gibt viel mehr Dörfer auf der Welt als Städte, das hatte Nelly vorher gar nicht so genau gewußt. Die Firma Otto Bohnsack, Getreide en gros, existiert im Februar 45 wahrscheinlich nicht mehr, genaugenommen. Aber sie steht in großen Buchstaben auf der Seitenplanke des grauen Lastzugs aufgemalt, der nun, abwechselnd von Onkel Alfons Radde und einem

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