Kindheitsmuster
letzten Postautos, das von L. nach Westen fuhr, ebenfalls die Oderbrücke passiert und dabei diejenigen Teile von Küstrin noch unzerstört sieht, die später während des Kampfes um die Stadt vollständig vernichtet werden sollen. (Der Genuß, den es macht, endlich einmal die Sprache so einzusetzen wie ein Marschall seine Truppenverbände: logisch, zwingend. Schlag auf Schlag.)
Die Tatsache, daß Charlotte Jordan ihre Kinder, um die sie sich sonst eher übermäßig ängstigte, alleine, wenn auch von Verwandten begleitet, ins sogenannte Ungewisse fahren ließ, ist in der jahrelang hin und her gewendeten längst zur Legende erstarrten Familiengeschichte so gut wie nie erörtert worden. Und doch hätte man sich – wäre es mit rechten Dingen und gesunden Sinnen zugegangen, aber das tat es ja eben nicht – über diese einschneidende Entscheidung der Mutter mehr verwundern sollen als über die Tatsache, daß die Bevölkerung über Drahtfunk aufgefordert wurde, ihre Stadt zu räumen. Natürlich stand kein Transportraum zur Verfügung. Die Szenen, die sich auf dem Bahnhof abgespielt haben, mag der beschreiben, der sie miterlebt hat.Am Abend des gleichen Tages, des 29. Januar 1945, wurde der letzte überfüllte Flüchtlingszug von den sowjetischen Panzerspitzen, welche die Stadt südlich umgangen hatten, vor Vietz in Brand geschossen.
In einem Punkt stimmt die Erzählung der inzwischen in alle Winde verstreuten, um einige ihrer Glieder dezimierten und aus persönlichen und politischen Gründen in sich zerstrittenen Familie überein: Der Geistesgegenwart und Findigkeit des Schwagers Alfons Radde war es zu verdanken, daß man zu rechtzeitiger Flucht die Möglichkeit bekam. Nach telefonischer Verabredung in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden fuhr er gegen neun Uhr mit einem Lastzug der Firma Otto Bohnsack, Getreide en gros, vor dem Jordanschen Haus vor, um seine Schwiegereltern Hermann und Auguste Menzel, seine Schwägerin Charlotte Jordan und deren beide Kinder Nelly und Lutz »einzuladen«, wie der Fachausdruck hieß.
Es war seine große Stunde. Alfons Radde, der zeitlebens um eine geachtete Stellung in der Familie seiner Frau zu kämpfen hatte, erwies sich nun als Stab und Stütze der schutzlosen Frauen und Kinder. Alles verlief planmäßig. Das Gepäck der Jordans – Koffer, Kisten, fest gestopfte Bettensäcke, Kartons mit Konserven aus den Jordanschen Lagerbeständen und sogar ein Butterfäßchen, dessen Inhalt natürlich, als der bitterkalte Winter erst vorbei war, der Verderbnis nicht widerstand, aber auch ranzig noch oder als Butterschmalz sowohl die Familie nährte als auch begehrtes Tauschobjekt war – alles wurde aufgeladen.
Man läßt den Auszug aus der Heimat nicht unbeweint. Charlotte hielt sich zurück. Vermutlich warenihre seelischen Kräfte von dem Entschluß in Anspruch genommen, der sich erst in ihr entwickelte, während sie noch das Gepäck verstaute. Sie hatte zum Weinen keine Zeit. Nelly kam für Tränen »vor versammelter Mannschaft« nicht in Frage.
Schnäuzchen-Oma dagegen ja. Sie weinte auf eine scheue, verstohlene Weise. Anders die Generation der Tanten: Trudchen Fenske, geschieden, Olga Dunst, deren Mann mit Frau Lude »auf und davon« gegangen war, Liesbeth Radde: Alle sitzen sie im Halbdunkel des Lastwagens – bis auf Tante Lucie, die abgesprungen ist, um beim Aufladen zu helfen – und begleiten jede neue Station, jeden neuen Abschied mit ihren leicht und reichlich fließenden Tränen.
Heute – wir schreiben den 3. August 1974 –, am fünfunddreißigsten Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, widmen die Zeitungen ihre diesem Datum zukommenden Kommentare. Kein neuer Krieg scheint irgendwo in der Welt begonnen zu haben.
Obwohl die verfeindeten Seiten im Nahen Osten weiter rüsten; Zehntausende von Menschen auf Zypern unter den Folgen eines dieser »begrenzten Kriege« leiden, die in Mode gekommen sind (unter ihnen jene alte Griechin, deren Weinen auf dem Bildschirm dich an das Weinen deiner Großmutter erinnert); obwohl in Vietnam gekämpft, in Chile gefoltert wird: Die größten Unglücke dieses Tages sind das Eisenbahnunglück im Bahnhof der jugoslawischen Stadt Zagreb und die Überschwemmungskatastrophe in Bangladesh.
Der heutige Tag ist, wie jeder Tag, auch die Spitze eines Zeitdreiecks, dessen zwei Seiten zu zwei anderen – zu beliebig vielen anderen – Daten führen: 31. August1939. Von früh um sechs Uhr an wird zurückgeschossen. 29. Januar 1945: Ein Mädchen,
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