Kindheitsmuster
Nelly, plump und steif in doppelt und dreifach übereinandergezogenen Sachen (geschichtsplump, falls dieses Wort etwas sagt), wird auf den Lastwagen gezerrt, um die in der deutschen Dichtung und im deutschen Gemüt so tief verankerte Kindheitsstätte zu verlassen.
Heute, an diesem heißen Tag, da durch die offene Balkontür das Geraschel der Pappelblätter, fernes Hundegebell und Motorengeräusch eines einzelnen Motorrades hereinkommt. Heute, da dir – ein seltenes Glück – auch das Unbedeutende nur das Gefühl steigern kann, zu leben: das Essen, der Wein am Mittag, die paar Seiten eines Buches, die Katze, das Schlagen der Uhr aus dem Zimmer, in dem H. über seinen Bildern sitzt, die Sonnenreflexe auf dem Schreibtisch. Der Schlaf nach dem Mittagessen und der zwielichtige Traum. Das Gedicht, das du liest, in dem es heißt: Hüte dich vor der Unschuld / deiner Weggenossen. Vor allem anderen aber die fünf Tagesstunden über diesen Seiten, der feste Kern eines jeden Tages, vom wirklichen Leben das Wirklichste. Ohne die sich alles, Essen und Trinken, Liebe, Schlaf und Traum in rasender, angstvoller Eile entwirklichen würde. Das ist richtig und soll so sein. Heute macht es dir nichts aus, dir jenen bitterkalten Januartag zurückzurufen.
Man will nun also abfahren, macht schnell, beeilt euch, es wird spät. Nelly, schon im Lastauto, streckt den Arm aus, ihrer Mutter noch hereinzuhelfen. Die aber tritt plötzlich zurück, schüttelt den Kopf: Ich kann nicht. Ich bleibe hier. Ich werde doch nicht alles im Stich lassen.
Folgte ein Tumult aus dem Wagen heraus, Rufe, Beschwörungen, Schreie sogar – die Großmutter, die Tanten! –, ein Tumult, an dem Nelly sich nicht beteiligte. Es war ja unglaubhaft, was geschah. Folgte ein kurzer Dialog zwischen Tante Lucie und Charlotte, in dessen Verlauf die Obhut über die Kinder besonders Tante Lucie übertragen wurde – eine vernünftige Wahl! –, wofür Charlotte versprach, sich um ihren Bruder, Lucies Mann, Onkel Walter, zu kümmern, der in seinem Betrieb, Maschinenfabrik Anschütz & Dreißig, »die Stellung hielt«. Folgte gleich darauf das Anrucken des Wagens: Alfons Radde, mit Recht ungehalten, wartete nun keine Minute länger. Sollte zurückbleiben, wer nicht mitwollte. Ein schrilles Aufheulen aus dem Wageninnern, das abebbte, da Charlotte sich schnell aus dem Blickfeld der Davonfahrenden entfernte. Das Haus sah Nelly noch, die Fenster, hinter denen die überaus vertrauten Räume lagen, über den Schaufenstern die roten Buchstaben: Bruno Jordan, Lebensmittel, Feinkost. Zuletzt die Pappel.
Jahre später, als die Betäubung sich aufzulösen begann, hat Nelly sich jede Minute dieses letzten Tages, den ihre Mutter in ihrer Heimatstadt verbrachte, vorzustellen versucht. Der Augenblick, da der Lastwagen ihren Blicken entschwunden ist, sie wie angenagelt steht.
Nun ist es zu spät. Den Gedanken, daß sie ihre Kinder verloren hat, muß sie sich verbieten. Hastig läuft sie die Treppe hoch, zurück in die verwüstete Wohnung. Ordnung schaffen, für alle Fälle erst mal Ordnung schaffen. In Schränke und Fächer zurücklegen, stellen, schichten, was hierbleiben mußte und herumlag.Das Führerbild von der Wand nehmen (auf den Schreibtisch klettern, um heranzukommen), es im Keller stumm mit dem Beil zerschlagen und es im Heizungsofen verbrennen. Plötzlich, als sie in die Wohnung zurückkommt, wie vom Blitz gerührt stehenbleiben: Sie hatte ja hier nichts mehr zu tun. Sie war ja ganz und gar verrückt, daß sie hiergeblieben war. Sie wußte ja überhaupt nicht, wohin ihre Kinder fuhren und wie sie sie je wiederfinden sollte. Rasend schnell verfielen die Gründe, die sie sich eingeredet hatte: Hüter von Haus und Herd sein, dem Mann für Hab und Gut verantwortlich sein, den Kindern ihr Erbe erhalten. Aber das ist ja Wahnsinn, wird sie vor sich hin gesagt haben. Das ist ja kompletter Wahnsinn.
Ihr wurde klar, daß sie Informationen brauchte. Das Telefon war schon tot, die Lage schien ernst zu sein. Ein Einfall: Leo Siegmann, der Buchhändler, Bruno Jordans Freund, ist in der Materialverwaltung der General-von-Strantz-Kaserne. Wenn einer, kann der ihr sagen, wie es steht. Sie dringt, zum Äußersten entschlossen, zu ihm vor. Siegmann, bleich, vernichtet gerade die letzten wichtigen Papiere, danach wird er unverzüglich das Weite suchen: Und wenn er laufen müßte. Die Garnison hat Abmarschbefehl. Ein Blick auf den Kasernenhof überzeugt Charlotte: Alles ist verloren. Sie weiß nun
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