Kindheitsmuster
auch über jene Millionen sprechen, die sich aufgaben und von ihren Kameraden aufgegeben wurden: »Muselmänner«. Man müßte, denkst du, auch das Schaudern lehren vor den Erfolgen des Menschenhasses; es steigerte nur die Bewunderung vor denen, die ihm widerstanden.
(Wenn du den Blick hebst, siehst du am Fenstergriff eine kleine bunte Kugel hängen. Eine Chilenin hat sie im Gefängnis aus winzigen Rosen zusammengesetzt, die sie aus Brot formte und anmalte. Sie hat sie einem Mädchen geschenkt, dessen Land ihr Asyl gewährte: Sie soll, lautet der Auftrag, weitergegeben werden an Menschen, die einem einmal Hoffnung gemacht haben. Wie sehr wünschtest du, sie jener Spanierin schicken zu können – Eva Forest –, die aus dem Gefängnis von Yeserias an ihre Kinder schrieb: »Warum soll ich Euch verheimlichen, daß ich viel geweint habe? Tränen sind, mehr als das Lachen, etwas Menschliches. Ich muß mich sehr anstrengen, um nur zu überleben ... Ich weiß, daß die Geschichte in Phasen verläuft, und wir leben in einer, die einen zwingt, sich technische Kenntnisse anzueignen. Aber man muß sich stets die große Gefahr vor Augen halten, die besteht, wenn man sich ausschließlich spezialisiert ... Ebenso wichtig ist es, die Sensibilität auszubilden, und es gibt hierfür kein besseres Mittel als die Kunst – wie es sie das Leben beschreibt, abbildet und bezeugt.« Diese Frau hat dir aus dem Gefängnis heraus Hoffnung gemacht.)
Das neue Fräulein bei Bürgermeister Steguweit, dessen Häuslerei die erste ist, wenn man von Großmühlen kommt, lachte selten und war gerecht. Ihr Geburtsdatumhütete sie wie ihr innerstes Geheimnis, denn sie begriff, daß alle ihre erfolgreichen Versuche, älter auszusehen, ihr nicht mehr helfen würden, wenn man wußte, daß sie sechzehn war. Ihr langgewachsenes Haar steckte sie zu einem Knoten zusammen, sie übte sich, selbstsicher aufzutreten und streng zu blicken. Respekt muß sein. Wer den verliert, der ist verloren, das merken Sie sich ein für allemal. Die Bitt- und Antragsteller, die ins Bürgermeisteramt kamen, trafen auf eine Respektsperson.
Nelly hat nie erfahren, wie man mit sechzehn ist. Sie kam nicht dazu, sechzehn oder siebzehn zu sein. Ihr Ehrgeiz war es, mindestens wie zwanzig auszusehn und sich keine Blöße zu geben, keine Schwäche zu zeigen. Mühsam holte ihre wirkliche Lebenszeit den Vorsprung, den sie sich abgezwungen hatte, später wieder ein. Aber die Jahre fehlen, für immer. Die Kinder haben es mit Eltern zu tun, die selbst nicht jung gewesen sind. Ruth, Lenka, ohne es zu wissen (vielleicht auch bewußt), belehren ihre Mutter über das Fremdwort »Jugend«. Lehren sie den Neid, mildern ihn durch die Gelegenheit zur Mitfreude.
(Als ihr abends spät nach Hause kommt, liegt vor Lenkas Tür ein Blatt. Sie hat sich selbst gezeichnet, wie sie sich im Spiegel sieht, sehr ernst. Auf der Rückseite steht: Ja – ich habe wieder nicht Mathematik gemacht, ich habe wieder nicht mein Zimmer aufgeräumt, wieder nicht geduscht. Könnt Ihr nicht begreifen, daß mir ganz andere Sachen wichtig sind? Es stimmt, sie schreiben mir nicht »Zum Studium besonders geeignet« auf mein Zeugnis. Na und? Werdet Ihr mich deshalb verstoßen?)
Bürgermeister Steguweit war aus Gründen, die Nelly erst allmählich klar wurden, an der Gerechtigkeit gehindert. Er war nicht gut beieinander, beinahe ausgezehrt durch ein Magenleiden. Ein säuerlicher Geruch ging von ihm aus. Die Schicksalsschläge der letzten Monate hatten ihn anfällig gemacht. Am wenigsten hielt er den Annäherungen der wechselnden Besatzungsmächte stand. Mit sämtlichen Kleidern, sogar mit Schuhen kroch er vor ihnen in sein Bett und rief mit zitternder Altersstimme nach einem heißen Ziegelstein, den seine Schwiegertochter Rosemarie Steguweit, geborene Wilhelmi, am Herd bereitzuhalten hatte. Der Stein wurde in Tücher gehüllt und auf des Bürgermeisters Magen gelegt. Nebenan, in der Amtsstube, zeigte indessen Herr Studienrat Untermann der Schreibkraft Nelly Jordan, wie man den Laden schmiß und mit den Leuten fertig wurde.
Studienrat Untermann, Flüchtling aus Dresden, wies Nelly ihren Platz an dem kleinen Fenstertisch zu, auf dem auch die uralte Schreibmaschine stand, mit der sie umzugehen lernen mußte. Untermann selbst thronte an der Schmalseite des Mitteltisches. Er hatte eine widerwärtige Art, den Studienrat herauszukehren und die Leute einzuschüchtern. Allerdings sprach er ein Sächsisch, das die Mecklenburger nicht
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