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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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fand, die Menschen seien vorwiegend schlecht, und zögernd nur mischte sie sich ein auf der Seite der Überlebenden, weil sie zu ihnen gehörte. Das Dorfleben war ihre Rettung, aber es lag ihr nicht.
    Zweifellos war das Zimmer im sogenannten Schloß von Großmühlen – einem häßlichen kastenartigen Bau mit einem ebenso häßlichen gedrungenen Turm an seiner Südseite – für Nelly und ihre Familie der vorläufig letzte, aber auch der einzige ihnen erreichbare Punkt auf dieser Welt. Stroh, das man auf den Parkettboden schüttete und mit einer Plane bedeckte. Mindestens ein Stuhl mit verschnörkelter Lehne, der Sitz mit einem Gobelinstoff bezogen, muß in diesem Zimmer gestandenhaben. Vielleicht mehrere. Kein Tisch, soviel du weißt. (Charlotte Jordan: Vornehm geht die Welt zugrunde. Nelly dachte, sie würde nie wieder im Märchen lesen können: »Und er nahm sie mit auf sein Schloß ...«, ohne laut lachen zu müssen.)
    Schnäuzchen-Oma, die auf dem Schloßstuhl sitzt, die Beine gespreizt, einen Eimer zwischen den Knien, in den sie Kartoffeln schält. Unvergeßliches Bild.
    Wann hört der Mensch auf, sich ein Bild zu machen? (Hört jeder Mensch damit auf?) Bardikow ist der letzte Ort, aus dem die Erinnerungen sich als Bilderbogen erhalten haben. Wenn es stimmt, daß der liebe Gott im Detail steckt – und auch der Teufel, selbstverständlich –, dann werden sich beide in den nächsten Jahren mehr und mehr aus dem Gedächtnis zurückziehen. (Ein Gedächtnis ohne Gott und Teufel – was wäre das wert?) Nicht, daß es keine Bilder mehr gäbe: Blitzlichtaufnahmen, auch Abfolgen. Aber ihre Leuchtkraft hat nachgelassen, als seien die Farben der Wirklichkeit nicht mehr von der gleichen Qualität wie früher. Dafür werden andere Erinnerungszeichen – Erkenntnisblitze, Einsichten, Gespräche, Gefühlszustände, Gedankengänge – merkwürdig. Worauf deutet das: Auf Altern? Oder nicht auch auf die Veränderung des Materials, das erinnert werden muß? Daß nicht mehr vor allem die Sinnesorgane das Gedächtnis in Gang setzen (»Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn!«), sondern immer häufiger die verschiedenartigen Ein-Drücke aus der unermeßlichen Welt des Unsichtbaren, Untastbaren?
    Ein Vorrat von Erfahrungen, aus dem Gott und Teufel verschwunden sind und in dem nur noch du selber steckst?
    Alles Mumpitz! So spricht Charlotte. Wir sind doch bloß die kleinen Schachfiguren in dem Spiel der Großen. Dabei war sie diejenige, die, ihrer Kinder wegen, ihre Finger immer im Spiel hatte. Natürlich hielt sie ihre Kinder für intelligent, sogar für »begabt«, obwohl sie nicht hätte sagen können, begabt wozu. Der materielle Hintergrund für eine »gesicherte Zukunft« war entschwunden, also hatte man jede, auch die abwegigste Gelegenheit wahrzunehmen, die Kinder, zunächst Nelly, ihren Begabungen entsprechend zu beschäftigen. (Charlotte hat die Ausbildung eines Mädchens niemals hinter die eines Jungen gestellt.) Nein, sagte sie der Schwester des Herrn von Bendow, »dem Fräulein«, das weit über sechzig war, von grauer Haut-, Haar- und Kleiderfarbe, unter den Kindern »die Mumie« hieß und das weibliche Dienstpersonal auf ihres Bruders Hof kommandierte: nein, meine Tochter ist bereits anderweitig verpflichtet. (Sie selbst, Charlotte, hatte sich längst bei der Mamsell in der Küche unentbehrlich gemacht.) Sie nahm Nelly mit zum Bürgermeister von Bardikow (1,7 Kilometer) und erreichte, indem sie ungeniert Nellys Intelligenz und Anstelligkeit anpries und ihren Blick wiederholt über des Bürgermeisters unordentlichen Schreibkram gleiten ließ, daß Richard Steguweit, ein hagerer, knochiger Mensch von sechzig Jahren, in einem fast unverständlichen mecklenburgischen Idiom Nelly als »Schreibhilfe« einstellte: Aber ohne »jedwediges Gehalt«. Die Gemeindekasse war leer. Frühstück und Mittagessen, das ja.
    Der Weg zwischen Großmühlen und Bardikow ist einer der schönsten Wege, die du kennst. Ein ausgefahrener Sommerweg, heute noch, einseitig von Heckenbestanden, zur anderen Seite hin der Ausblick auf freies Feld, auch Koppeln. Früh um halb acht begegnete Nelly keinem Menschen, von ferne sah sie die Leute auf den Feldern, die begannen sie nach und nach zu grüßen. Denn es dauerte nicht lange, da kannte jeder im Dorf – Einheimische und Flüchtlinge – »das neue Fräulein« vom Bürgermeister.
    Obwohl du gewiß nicht das Gedächtnis eines Landvermessers hast: Den Plan von Bardikow könntest du aus dem Kopf

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