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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Flur: Johlen und Pfeifen. Nicht »vulgär« übrigens, wie Charlotte es interpretiert hätte, auch nicht gefährlich. Eher vergnügt, sogar anerkennend. Ein Blick in eine Kasernenstube. Mecklenburgische Bauernbetten, auf denen am hellerlichten Tag halbnackte Burschen lümmelten (Charlottes Redeweise). Die meisten mit einem Kleidungsstück angetan, das Nelly später »shorts« nennen lernt. Nackte, haarige Männeroberkörper. Hallo, baby, und so weiter.
    Nelly, in einwandfreier Aussprache, fragt nach dem »commander«. Lärmender Bescheid: Die andere Tür. Gegenüber. Sergeant Forster trägt zu seinen Shorts ein Turnhemd, hat die Füße auf einen Stuhl mit Rohrgeflecht und gedrechselter Lehne gelegt, kaut Gummi, hört Musik aus einem Kofferradio. Er liest Nellys Schriftstück, schreibt ein Wort darunter und gibt es ihr, nachdem er es gezeichnet hat, zurück.
    Das Wort, das Nelly sofort liest, heißt: No.
    Nelly sagt: Besten Dank. Auf Wiedersehen.
    Der commander sagt: Bye-bye.
    Studienrat Untermann, nach der Lektüre des Wortes »No«: Infamie des Siegers. Nellys Schadenfreude. Zwar teilt sie Untermanns Ansichten über »unser Vaterland« (»So werden wir Zeuge sein, wie sie unser Vaterland zugrunde richten«), aber ihm persönlich wünscht sie »alles erdenklich Gute« (Charlotte Jordan, die den Studienrat ebenfalls »genascht« hat.)
    Den Wagen zum Abtransport der Radioapparate des Dorfes Bardikow – einschließlich des Saba von Studienrat Untermann und des Volksempfängers aus der Bürgermeisterei – hat Bauer Pahlke zu stellen, zähneknirschend natürlich, vermutet Untermann. Ein einfacher Kastenwagen genügt. Was unterwegs zu Bruch geht, das ist nicht unser Dampfer. Der Wagen hält vor jedem Haus, Nelly hat an die Türen zu klopfen, die registrierten Apparate einzufordern, die Ablieferung auf ihrer Liste abzuhaken. Auf dem Wagen Studienrat Untermann, der die Geräte verstaut. Alles in allem eine demütigende Angelegenheit, da hat er schon recht.
    Noch einmal die Richtstraße (Marienkirche, Abschiedsblicke). Noch einmal die ehemalige Soldiner, noch einmal vorbei am ehemals Jordanschen Haus. Man wiederholt sich. Was also jetzt? Umkehren, oder was? Umkehren. Das ehemals Jordansche Haus nun im Rückspiegel, kleiner werdend. Keiner taktlos genug, zu sagen: Seht euch noch mal um. Keiner gibt seinen Mangel an Empfindung zu.
    Die allgemeine Frage, ob man noch bleiben solle, blieb an dir hängen. (Nein, sagte Lenka, zurückhaltend, von ihr aus nicht.) Ihr hieltet am kleinen Alten Friedhof,am Fuß jener mächtigen Treppe, die zwei Straßen unterschiedlichen Niveaus miteinander verbindet und dann, sich teilend, steil hinaufführt zur ehemaligen General-von-Strantz-Kaserne, in der gerade um jene Zeit – vierziger Jahre – ein Mann namens Gottfried Benn Offizier und Truppenarzt war. Am Fuß der Treppe, die Nelly einmal mit Julia (Dr. Juliane Strauch) hochgegangen ist, plötzlich fiel es dir wieder ein. Auch, was sie gesprochen haben: Ob Nelly einen neunjährigen Fleischerssohn mit großen Wissenslücken auf die Aufnahmeprüfung für die Oberschule vorbereiten wolle. Sie, Julia, wüßte in allen ihren Klassen niemanden, der sich besser dafür eignen würde als Nelly. Natürlich gegen Entgelt, fünf Mark die Stunde, da solle sie sich bloß nicht zieren. Nellys dummes Glücksgefühl, hier, auf dieser Treppe. Der schüchterne, dünne blonde Junge des Fleischers. Klaus – richtig: Klaus. Seine Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung. Das weiße Briefkuvert am Monatsende, Inhalt: zwanzig Reichsmark. Der große Blumenstrauß der Fleischersfrau – dünn, blond, schüchtern –, als ihr Sohn Klaus die Prüfung bestanden hatte ...
    Nein, hörst du dich sagen – von mir aus auch nicht. Fahren wir.
    (Zu Hause wirst du nachlesen bei dem Dichter und Truppenarzt, »Block II, Zimmer 66«, der die Stufen jener Treppe gezählt hat: Einhundertsiebenunddreißig, schreibt er. »Die Kaserne lag hoch, burgartig überragte sie die Stadt.« – »Nichts Träumerischeres als eine Kaserne«, schreibt er, und: »Eine Stadt im Osten«, worüber du jedesmal lachen mußt, denn der »Osten«, das war für Nelly Königsberg und Danzig, das war Bromberg, aber doch nicht ihre eigene Stadt: »Diese östlichenStädte an Märztagen so grau, so staubverhangen – auf diese Weise sind sie nicht zu deuten.« Der Blick des Achtundfünfzigjährigen, womöglich – lustig zu denken – eine Fünfzehnjährige streifend, im Vorübergehen, am Fuß der Treppe:

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