Kindheitsmuster
verstanden, er seinerseits nannte das Platt der Bauern nie anders als »Botokudensprache«. Nelly, die nach kurzer Zeit beides verstand oder erriet, mußte dolmetschen – ein Triumph, den er ihr nicht verzieh.
Studienrat Untermann hat Nelly allerdings auch das Studium der sogenannten Dorfliste empfohlen, eine Aufstellung aller landbesitzenden Gemeindemitglieder, in schräger, zittriger Sütterlinschrift mit blasser Tintevon Richard Steguweit selber ausgefertigt. Die einheimische Bevölkerung des Dorfes gliederte sich in »Bauern«, »Büdner«, »Häusler«. Aufgeführt wurde der Haushaltungsvorstand einer jeden Familie und die Anzahl der Hektar, die er besaß. Untermann forderte Nelly auf, nachzusehen, unter welcher Rubrik sie »unsern Chef«, den Bürgermeister, finde.
Richard Steguweit war als Häusler mit 8 ha Landbesitz verzeichnet. Das sind, sagte Untermann, wieviel Morgen? Na? Richtig: Sage und schreibe 32 Morgen, ein Klacks. Darunter noch das Stück saurer Wiese, das Sie aus dem Küchenfenster sehen können und auf dem unsere liebe Dulcinea – Steguweits Kuh hieß »Bunte«, aber Untermann nannte sie niemals anders als »unsere liebe Dulcinea« – beinah krepiert. Und nun lesen Sie bitte vor, was unter dem Namen Pahlke steht. – Unter dem Namen Pahlke, Wilhelm stand: 74 ha, dazu die Bezeichnung »Bauer«. – Sehn Sie wohl. Bodenklasse I, nebenbei bemerkt. Und jetzt dämmert es Ihnen vielleicht, warum unser lieber Steguweit sich aus dem Bette wälzt, wenn Herr Pahlke hier hereintritt, und warum er ruhig liegenbleibt, wenn Mister Forster uns die Ehre gibt. Mister Forster aus Wisconsin geht. Wilhelm Pahlke bleibt. Tja, mein Kind – Untermann konnte es nicht lassen, Nelly auf sächsisch »mein Kind« zu nennen – : Sie müssen noch viel lernen.
Mister Howard Forster, Sergeant, befehligte die »Ami-Truppe« (Untermanns Ausdruck) in Bardikow, bestehend aus höchstens zehn Mann. Er kam in die Bürgermeisterei, um Forderungen wegen der Unterbringung seiner Soldaten zu stellen oder um Passierscheine zu unterschreiben und Studienrat Untermann Ami-Zigarettenanzubieten, die der dann in seine Pfeife stopfte.
Das Haus, in dem die Amerikaner »lagen«, war das zu diesem Zweck geräumte Haus des Büdners Johann Theek und lag in einer der leicht ansteigenden Seitenstraßen, die alle auf dem Ringweg enden, der hinter dem Dorf herumläuft. Sergeant Howard Forster, ein dunkler, stämmiger Typ, dem eine Haarsträhne ins Gesicht fiel und der sein knappes Dutzend entweder ebenfalls stämmiger oder lang aufgeschossener Männer – kein Neger darunter – nicht sehr straff am Zügel hielt, so daß aus jenem »Ami-Haus« Tag und Nacht wüste Musik drang (»Negerjazz«, Studienrat Untermann), auch anderer Lärm, und daß die Flaschen und die leeren Konservenbüchsen sich im Vorgarten häuften. Ganz davon abgesehen, daß in manche Dorfhäuser nicht nur leere, auch volle amerikanische Konservendosen Eingang fanden, nebst Zigaretten und Kaffee. Für welche Gegenleistung, brauchte Herr Untermann wohl nicht ausdrücklich zu sagen.
Nein, das brauchte er nicht, mit seiner gequetschten quängeligen Stimme. Aber er dachte auch nicht daran, einzuschreiten, als Bürgermeister Steguweit (»in manchen Dingen schon jenseits von Gut und Böse«) das neue Fräulein zu Mister Forster schickte, mit einem Schriftstück, das sie vorher mühsam nach Untermanns Entwurf auf der Schreibmaschine getippt hatte und das sowohl den Bürgermeister selbst als auch seinen »Stellvertreter«, Untermann, von der Ablieferung ihrer Rundfunkgeräte (1 Volksempfänger, 1 Saba) befreien sollte. Aus dringenden dienstlichen Gründen. Der Text war von Untermann in ein Englisch übersetzt worden, das Nelly nicht weiter beurteilen wollte.
Sie ging also, ungern, nach »Wild-West« – so hieß das Haus der Amerikaner bei ihrer Mutter, und fand ihre Erwartungen erfüllt:
Im Ami-Haus standen alle Türen offen. Es ist eine der amerikanischen Sitten, an die man sich schneller gewöhnt als an manche andere, die aber besser in ein ölgeheiztes, vollautomatisiertes amerikanisches Einfamilienhaus paßt als in ein mecklenburgisches Bauernhaus, in dem es auch bei geschlossenen Türen »zieht wie Hechtsuppe« (Charlotte Jordan). Musik natürlich, aus Kofferradios. (Wozu brauchen sie die deutschen Radioapparate? Studienrat Untermann: Um die geistige Versteppung der deutschen Nation einzuleiten.) Aus der Stube zur Rechten nach Nellys Eintritt in den ziegelsteingepflasterten
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