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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Seltsamkeit unter Seltsamkeiten, die er sah, sie nicht, und die du daher nicht wiedererkennst. »Straßen, die Hälfte im Grund, die Hälfte auf Hügeln, ungepflastert; einzelne Häuser, an die kein Weg führt, unerfindlich, wie die Bewohner hineingelangen; Zäune wie in Litauen, moosig, niedrig, naß.« Wo denn bloß, diese Straßen, diese Häuser, diese Zäune? Wie gerne du sie auch gesehen hättest. H. aber, der diese verkehrte Sehnsucht nicht aufkommen lassen will, sagt, daß du mißverstehst. Das sei alles stilisiert, wie die Beschreibung des Stadtparks: »... doch ungeheuer auffallend das Schwanenmotiv. Schwäne – das ist stilisiert!« Und doch, und doch ... Wie edel. Edel durch Distanz. Fremder Blick, unter leicht hochgezogenen Brauen. »Wo du auch hinhörst, es ist letzter Klang, immer Ende, finale Lust ...«
    Die Stadt als Anlaß, als Motiv, als Zeichen, nicht als Stadt. Du glaubst zu verstehen.)
    Studienrat Untermanns Tage auf dem Bürgermeisteramt waren übrigens gezählt. Bruder Lutz, der in Herrn von Bendows Ställen seine Laufbahn als Pferdejunge begann, hat keine Erinnerung an Felix Untermann, fast keine an Bürgermeister Steguweit, nur eine schwache Ahnung, daß der Nazi war. Nazi, sagst du, das weiß ich nicht. Mitglied der NSDAP jedenfalls, daher ängstlich.
    Und sein Sohn? War der nicht SS-Mann?
    Waffen-SS.
    Immerhin. Er kam nicht nach Hause.
    Nicht, solange wir in Bardikow waren. Seine Frau Rosemarie wartete auf ihn mit den Kindern Dietmar und Edeltraut, aber er kam nicht. Sein Vater hat mehr gefürchtet als gehofft, daß er zurückkäme.
    Bruder Lutz kennt noch die Namen einiger Pferde, er weiß noch, was sie gefüttert haben, und er sieht sich mit Gerhard Grund, dem Sohn des erschossenen Landarbeiters, auf dem Futterboden hocken und davon reden, daß sie beide Ingenieur werden wollen. Sie wurden es, beide.
    Los geht’s, sagt Bruder Lutz. Richtung Heimat.
    Das Wort »Nazi« hast du viele Jahre nach dem Krieg nicht benutzt. Nelly wäre es nicht in den Sinn gekommen, Studienrat Untermann einen »Nazi« zu nennen. Der amerikanische Captain, der mit zwei Militärpolizisten und dem unvermeidlichen Sergeanten Howard Forster eines Nachmittags in der Bürgermeisterei erschien, gebrauchte dieses Wort, Nelly hörte es zum erstenmal. Er sprach ein stark amerikanisch gefärbtes Deutsch, so daß Nelly »Näsi« hörte und sich erst später übersetzen konnte, wie der Captain den Studienrat aus Dresden bezeichnet hatte. Vor der Bürgermeisterei hielt ein amerikanischer Armeelastwagen mit einem weißen Stern an der Tür und einem schwarzen Fahrer, der lachend Kaugummis an die Dorfkinder verteilte, die sich um ihn ansammelten.
    Das merkwürdigste an der kurzen Verhaftungsszene – der ersten, deren Zeuge Nelly war – blieb die Tatsache, daß Studienrat Untermann Bescheid wußte, noch ehe der Captain aus dem Wagen gestiegen, mit seiner Begleitmannschaft den Vorgarten und den Flur des Hauses durchschritten hatte und nach kurzem, hartem Anklopfenins Zimmer getreten war. Schon als der Wagen hielt, hatte Studienrat Untermann sich von seinem beherrschenden Platz am Mitteltisch erhoben, war bleich geworden und hatte mit wahrhaftig zitternden Lippen gemurmelt: Jetzt kommen sie! Worauf Richard Steguweit, der zufällig im Zimmer war, nichts anderes zu sagen hatte als: Dat schall woll sinn.
    Der Captain, der sich schnell unter dem Personal der Gemeindestube orientierte, sagte zu Untermann also den Satz, in dem das Wort »Näsi« vorkam. Untermann kam sofort hinter seinem Tisch hervor, machte einen kläglichen Versuch, ungläubig zu lächeln, wobei ein sehr dünner Speichelfaden aus seinem linken Mundwinkel floß, brachte es noch fertig, von Denunziation zu reden (Eine infame Denunziation, Mister Captain, ich beschwöre Sie!), aber ein empörter Mensch sieht anders aus als ein Mensch, der Angst hat. Untermann hatte Angst. Er ging, wie immer, hinter Nellys Rücken zur Tür, an deren beiden Pfosten je ein amerikanischer Militärpolizist postiert war, er stolperte, wie immer, über ihre Stuhlbeine und machte, endlich doch empört: Ts, ts, ts! – Wie immer.
    Da fing Nelly zu lachen an. Gegen ihren Willen platzte sie heraus, während die beiden Militärpolizisten mit ihren weißen Handschuhen nach Studienrat Untermanns Armen griffen. Und da zeigte es sich nun, daß Herr Untermann Erzieher war, durch und durch, denn unter der Tür drehte er sich um und strafte Nelly mit dem Urteil: Unreif! – Das war das letzte, was sie von

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